In den Medien werden zurzeit
für uns alle - sei es zur Freude, sei es zum Verdruss - viele schockierende und
alarmierende Informationen zum gegenwärtigen Flüchtlingselend geschildert.
Vielleicht erinnern Sie sich noch dunkel an Berichte vor dem “Sommerloch”.
Viele Zeitungen brachten vor Monaten folgende Überschriften: “Kirchen
schrumpfen auch im Südwesten” oder “Deutschlands schwindendes Christentum in
Zahlen”. Da wurde etwa sensationell berichtet, dass die Zahl der Kirchenmitglieder
bundesweit in den katholischen Diözesen einen Rückgang von ca. 230.000
Gläubigen, bei den evangelischen Landeskirchen sogar um ca. 410.000 Personen
Ende 2015 zu erwarten seien.
Was sind denn die Gründe
dafür? Vielleicht die Irritationen beim neuen Einzugsverfahren von
Kirchensteuern auf Kapitalerträge? Oder weitere Unzufriedenheit bei
Missbrauchsfällen von Heranwachsenden? Oder vielleicht das schwindende Vertrauen
beim sog. Bodenpersonal der Kirchen? Und dies, obwohl sich der neue Papst Franziskus
bei vielen Menschen großer Beliebtheit erfreut! Verwirrend ist zudem, dass bei
kirchlichen Steuerschätzungen sogar die Einkünfte beider Kirchen bei
schwindenden Mitgliederzahlen, wegen der guten Wirtschaftsentwicklung, noch steigen!
Warum diese Aufregung in den
Medien, frage ich mich. Da ich in unserem “Württembergischen Verein zur
Förderung der humanistischen Bildung e.V.” seit 1976 bei wechselnden Vorständen
als sog. Vertreter der evang. Landeskirche tätig bin, verwundern mich diese
Diskussionen sehr. Als Schreiber dieser Zeilen möchte ich Ihnen etwas kurz
erzählen: 1975 wurde ich vom damaligen Vorstandsmitglied Dr. Schütt vom
Oberschulamt Stuttgart aufgefordert, in unserem Verein mitzuarbeiten. Ich kam
als evang. Theologe in das Schulreferat des OKR, weil damals die sog. Oberstufenreform
für die Gymnasien mit dem neuen Abitur eingeführt werden sollte. Dr. Schütt und
ich als Vertreter des Schulreferates mussten außerdem den Zugang zu einer
Freistelle im Evang. Stift in Tübingen neu organisieren (Konkursprüfung).
Ferner wurden durch die kommenden Studien-Reformen an den Universitäten, auch
für das Fach Theologie, Sprachprüfungen nötig. Es sollten weiterhin die alten
Sprachen (Hebräisch, Griechisch und Latein) verpflichtend sein.
Mir erscheinen diese
Diskussionen über Strukturen und über Finanzen in der letzten Zeit nicht
sinnlos oder falsch. Sie gehen aber häufig an den wirklich wichtigen und
inhaltlich bedeutenden Fragen einer Kirche vorbei. Viel wichtiger sind die
theologischen Streitpunkte, die oft unerledigt liegen gelassen werden. Dann
sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Dann wird übersehen, dass
zurzeit ein heftiger Streit an der Universität in Berlin begonnen hat, wo es um
die Gewichtung der Hebräischen Bibel (Altes Testament) für die Schriftauslegung
eines evangelischen Theologen geht. Welche Texte des Alten Testaments sind nun
bei der Auslegung im Gottesdienst verbindlich? Welche Texte kann man übergehen
oder sogar als missverständlich beiseite lassen. Es geht um die Frage, um den
sog. “Kanon”, die Richtschnur für den christlichen Glauben.
Nach Zeiten des sog.
“Kirchenkampfes”, den die Kirchen während der Herrschaft des Dritten Reiches zu
führen genötigt waren, kehren nun wieder die alten, vermeintlich “erledigten”
Themen des Kulturprotestantismus wieder. Ein Theologe wie Karl Barth, hatte
1934 bei der “Theologischen Erklärung von Barmen” die Fehler des Liberalismus
bekämpft. Diese werden jetzt erneut akut. Der Berliner Systematiker Notger
Slenczka beruft sich auf den Kirchenhistoriker Adolf von Harnack und möchte die
bisherige Gültigkeit des Kanons relativieren. Seine Frage lautet: “Gehört das
ganze Alte Testament weiterhin zur verbindlichen Sammlung biblischer
Schriften?” Oder müsste man nicht innerhalb dieser Sammlung eine deutliche
Auswahl erarbeiten, damit die Botschaft des evangelisch verstandenen Glaubens
deutlicher wird. Es ist nicht zu leugnen, dass weite Teile des Alten Testaments
für das heutige Glaubensverständnis, zumindest missverständlich sein kann (z.B.
Rachepsalmen oder Bräuche der jüdischen Frömmigkeit). Aber wo liegen nun die
Grenzen, wo ein alttestamentarischer Text verbindlich ist und wo nicht? Die
Bedeutung des Alten Testaments als “Heilige Schrift” ist in dieser Debatte noch
nicht ausreichen geklärt, denn es ist ja für einen Christen nicht zu leugnen
und auch nicht für einen Juden, dass der Jude Jesus von Nazareth in der
jüdischen Tradition aufgewachsen und auch darin gelebt hat. Wir können nicht
leugnen, dass Jesus von Nazareth zum jüdischen Volk gehört hat, sich aber auch
in vieler Hinsicht von bestimmten Traditionen des Judentums gelöst hat. Auch
wenn für eine christliche Kirche die Hebräische Bibel als eine Art
“Sprachschatz” bei der Auslegung und Formulierung des christlichen Glaubens
eine bedeutende Rolle gespielt hat, sind die Fragen zwischen Christentum und
Judentum nicht einfach zu harmonisieren, sondern zu klären.
Wenn christlicher Glaube
auch ein denkender Glaube ist, ist ein reflektiertes
Schriftverständnis für einen evangelischen Theologen unumgänglich. Diese Reflexion ist unbedingt nötig. Die eingangs erwähnten Diskussionen werden dann eigentlich überflüssig, wenn sie zur Hauptsache in einer Kirche werden.
Schriftverständnis für einen evangelischen Theologen unumgänglich. Diese Reflexion ist unbedingt nötig. Die eingangs erwähnten Diskussionen werden dann eigentlich überflüssig, wenn sie zur Hauptsache in einer Kirche werden.
Dietrich
Elsner
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