alter Titel

ehemals Württembergischer Verein zur Förderung der humanistischen Bildung e.V.

Freitag, 25. März 2016

Humanistische Verschnaufpause I Diskussion über die Kirche – überflüssig oder nicht?


Kirche und Humanismus – in Großbritannien sehen viele darin einen Gegensatz. Wahre Humanisten seien ihnen zufolge diejenigen, „die sich von der Furcht vor Gott und dem Orcus befreit hätten“, wie der allseits bekannte Latinist Prof. Wilfried Stroh in seinem lateinischen Vortrag vom 22. Juli 2007 zum Thema Humanismus referierte: qui se a timore dei Orcique liberaverint. Offenbar herrscht in Baden-Württemberg eine andere Tradition. „Diskussionen in der Kirche –überflüssig oder notwendig?“  so das Thema des beachtenswerten Artikels, den Dietrich Elsner, langjähriges Mitglied des Vorstandes unserer Humanistenvereinigung, für diese Seite gepostet hat. Wir werden sehen, warum ein solcher Artikel nicht nur für die württembergischen Humanisten durchaus von Interesse sein könnte.

 
‚Gehört das ganze Alte Testament weiterhin zur verbindlichen Sammlung biblischer Schriften?‘ Oder müsste man nicht innerhalb dieser Sammlung eine deutliche Auswahl erarbeiten, damit die Botschaft des evangelisch verstandenen Glaubens deutlicher wird“, lautet die Kernfrage, die Herr Elsner in seinem Artikel vom 16. März stellt, denn „es ist nicht zu leugnen, dass weite Teile des Alten Testaments für das heutige Glaubensverständnis zumindest missverständlich sein“ können. Dabei bezieht er sich auf eine strittige Debatte, angestoßen von einem Professor für „Systematische Theologie“ Notger Slenczka an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Streitbarer Theologe
Prof. Dr. Notger Slenczka
Der Denkanstoß von Prof. Slenczka erregte tatsächlich großen Anstoß und sorgte für eine heftige Kontroverse sowohl im theologischen Elfenbeinturm als auch in den öffentlichen Medien. Deutliche Kritik kam beispielsweise von Friedhelm Pieper, dem Ev. Präsidenten des „Koordinierungsrats der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ (Pressemitteilung, 7. April 2015) wie auch vom EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm (EKD-Synode 2015). Auch in der jüdischen Gemeinschaft sorgten Slenczkas Thesen für Unruhe wie im Falle von Joel Berger, ehemaliger Landesrabbiner von Württemberg, der in Slenczka einen „Fortsetzer dieser antijudaistischen Züge der früheren Theologen“ feststellte. So heftig manche Reaktionen gegen die strittige Auffassung des Berliner Professors ausgefallen sein mögen, so sehen wir hier doch einen deutlichen Unterschied zur wesentlich differenzierteren Anschauung von Herrn Elsner, was die Sache für die Humanisten erst richtig diskussionswürdig macht.

Slenczkas Thesen kurz zusammengefasst
Gerade bei einer derartig erbitterten Auseinandersetzung wird es notwendig, dafür zu sorgen, dass die erhitzten Gemüter sich abkühlen. Kurz mal innezuhalten und in aller Ruhe die Wiederkehr der Vernunft einzuleiten, um ein nüchternes Nachdenken über die Materie zu ermöglichen: die Zeit für eine „humanistische Verschnaufpause“ ist gekommen!

A. von Harnack,   Fr. Schleiermacher
Fassen wir also die Thesen kurz zusammen, die Slenczka bereits im Oktober 2013 im „Marburger Jahrbuch Theologie XXV“ bekannt gemacht hat. Der Berliner Professor legt in jenem umstrittenen Aufsatz nahe, das ganze Alte Testament (AT), freilich ein Zeugnis „mit partikularem Anspruch“, als nicht zum biblischen Kanon der (evangelischen) Christen gehörig zu betrachten, indem er sich auf die deutschen Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) und Adolf von Harnack (1851 – 1930) beruft. Als verbindliche Richtschnur soll lediglich das Neue Testament (NT), „Zeugnis der Universalität des Gottesverhältnisses“,  bestehen bleiben. Denn das „Korpus der alttestamentlichen Texte“ in seiner Gänze sei nach Slenczka eigentlich „Ausdruck eines fremden religiösen Bewusstseins“. So sei es auch klar auszumachen, „dass wir den Texten des AT in unserer Frömmigkeitspraxis einen minderen Rang im Vergleich zu den Texten des NT zuerkennen“. (N.B.: Alle Hervorhebungen im Text, wenn nicht gesondert vermerkt, v. Verf.) 
Methodische Fragwürdigkeiten der Slenczka -Theologie
JHW(H) auf einem Flügelrad
Münze aus der Spätperserzeit, 4. Jh. v. Chr.
Wie äußert sich also dieser „Ausdruck eines fremden religiösen Bewusstseins“? „Historisch gesprochen verkündigt das Alte Testament nicht Jesus. Es ist in erster Linie Wort Gottes an Israel“, fasst Slenczka in einem Interview aus dem letzten Jahr seinen theologischen Ansatz zusammen und bezieht sich dabei auf die Erkenntnisse der historisch-kritischen Bibel­wissenschaft. Erst einmal seien diese Texte also „an das gegenwärtige Judentum gerichtet“.
(Der Haken an der Sache: Die Fragestellung an sich, ob ein Schriftkorpus irgend­jemanden/­irgendetwas an jdn. „verkündigt“ oder nicht [das christliche „Kerygma“], ist keine haltbare Kategorie in der historischen Wissenschaft. Der „ursprüngliche und erste Sinn“, der für die Bibelexegese laut Slenczka „der maßgebliche“ sein soll, lässt sich bei den fraglichen Texten ja erst gar nicht ermitteln. Ebenso kritisch verhält es sich mit dem Rekon­struktions­versuch eines einheitlichen „religiösen Bewusstseins“. Vollends unzulässig erscheint das Unterfangen von Professor Slenczka, aus solchen fehlgeleiteten Grundannahmen rechtfertigende od. normative Schlüsse ziehen zu wollen.)

Längst hat die Wissenschaft freilich erwiesen, dass es weder einen einheitlichen, über die Zeiten ungebrochenen „Israel“-Begriff noch eine beglaubigte Ansprache irgendeines Gottes (= welcher denn? Seth, Baal, El Shaddai, El Elyon, El Berit, El Olam – all diese Figuren flossen in JHWH ein, als dieser von einer einfachen Gottheit nach und nach zu „Gott“ [„Elohim“, Plural!] erhoben wurde) an irgendeine geschlossen-einheitliche, auserwählte Gruppierung gegeben hat. In historischer Hinsicht haben sakrale Überlieferungen u.a. die Funktion, Spannungen in einer heterogenen Gemeinschaft auszugleichen oder auch rivalisierende Gruppierungen und Stämme in eine Gemeinschaft einzugliedern. Dabei werden redaktionelle Überarbeitungen, Neukonzipierungen und Erweiterungen des Kanons sowie auch sonstige umdeutende Anpassungen der Schriften an die jeweiligen Bedürfnisse der Zeit vorgenommen, weshalb auch die Bibel eine Fülle von teils widersprüchlichen Überlieferungsschichten kennt. Vergessen wir nicht, dass wichtige Überlieferungsstränge des Pentateuchs in jene Zeiten zurückreichen, als die alttestamentliche Gottheit „JHWH“ manchenorts neben der weiblichen Ashera, vermutl. mit der hellenistischen Astarte und der altägyptischen Isis verwandt, verehrt wurde (vgl. Tonfiguren zwischen 8. u. 6. Jhd. v. Chr.) oder gar in keinem Bezug zum Begriff „Israel“ stand (vgl. Inschrift aus der Zeit Amenophis III., 14. Jhd. v. Chr. sowie Liste aus der Zeit Ramses II., 13. Jhd. v. Chr.).

„Vollbrüstige Gattin Gottes“
Ashera-Figur, 8. Jh. v. Chr.
Auch später, seitdem der Begriff einer Kultgemeinschaft namens „Israel“ entstand und die JHWH-Verehrung nichts mehr mit vollbrüstigen Frauenfiguren o.ä. zu tun hatte, bestanden zu verschiedenen Zeiten Differenzen in der Identitätsfrage und entsprechend auch unterschiedliche Lösungsansätze. Zum Beispiel: Soll die Kultgemeinschaft über die väterliche Linie (Samaritaner) oder über die Linie der Mütter (Judentum) fortgeführt werden? Oder kommen andere Qualifikationsmerkmale für die Mitgliedschaft in Frage (vgl. das Christentum)? Entsprechend unterschiedlich ist auch der Wortlaut und Umfang der identitätsstiftenden Schriften; so weicht die Fassung des Pentateuchs der Juden zum Teil deutlich von der Überlieferung der Samaritaner ab, deren Gemeinschaften übrigens auch im heutigen Staat Israel noch existieren. Auch die christlichen Überlieferungen gehen teilweise mit dem Samaritanischen Pentateuch gemein (vgl. „Vetus Latina“ und die moderne „Einheitsübersetzung“).
Wir sehen also: Eine durchgängig einheitliche Intention oder Stoßrichtung der heterogenen Autorenschaft der biblischen Schriften lässt sich, historisch betrachtet, überhaupt nicht rekonstruieren und spielt auch in der Frage nach der Verbindlichkeit des Kanons gar keine maßgebende Rolle. Normative Schlussfolgerungen aufgrund dessen, was eine Schrift angeblich schon immer verkündigt oder auch nicht verkündigt hat, beruhen in historisch-kritischer Perspektive auf unqualifizierbaren Basisfiktionen. Ferner stellen wir fest, dass der Systematik-Professor Slenczka, der hinter dem Alten und dem Neuen Testament jeweils ein einheitliches „religiöses Bewusstsein“ zu verorten scheint, schlichtweg unsystematisch vorgeht: Indem er sich – scheinbar – auf die historisch-kritische Bibelwissenschaft beruft, demonstriert er einen unreflektiert-unhistorischen Umgang mit der überkommenen Überlieferung, was hinsichtlich der seinerseits zur Schau gestellten intellektuellen Naivität eher an die Vorgehensweise irgendwelcher fundamentalistischen Gruppierungen erinnert.

Der Antisemitismus-Vorwurf
Nicht die methodische Inkonsistenz freilich von Slenczkas Thesen erregte die Gemüter in der Öffentlichkeit. Da war beispielsweise von einer „Herabwürdigungder jüdischen Überlieferungen die Rede, da sie als „nicht mehr relevant“ eingestuft würden, als könne man „diese auch schon ad acta tun“ (Joel Berger). Auch Parallelen zur Traditionslinie des deutschen Kulturprotestantismus wurden gezogen. Jene verhängnisvolle Linie hatte einst ideologisch den Boden bereitet für die rassistisch-antisemitischen Bewegungen der Deutschen Christen im Dritten Reich, die alles Jüdische aus der christlichen Bibel und Religion verbannen wollten. Eine erneute Bezugnahme darauf werde „über kurz oder lang wieder dazu führen, dass es einen arischen Jesus geben soll“, so die Stellungnahme des Berliner Rabbiners Andreas Nachama.

Es ist der unheilvolle Geist des Antisemitismus, den man erneut in Deutschland auferstanden wähnt. Wir sollten allerdings mit derlei polemischen Vorwürfen sehr vorsichtig umgehen, zumal das Etikett „antisemitisch“, einmal ausgesprochen, den Ruf eines Menschen ruinieren kann. Oft geht eine solch unnachsichtige Etikettierung mit unproduktivem „Schwarz-Weiß-Denken“ bzw. „Freund-Feind-Schema“ einher, das uns vergessen lässt, die Dinge auch in Zwischentönen zu begreifen.
Und siehe: Eine judenfreundliche Lesart der Slenczka-Thesen liefert der Urheber selbst. Es gehe nicht an, dass die Christen mit ihrem „Deutungsanspruch“ das Alte Testament für sich vereinnahmten, welches ja ausschließlich den Juden zustehe. Diese wohlgemeinte (aber keineswegs historisch haltbare) Idee mündet in den Vorschlag, die alttestamentlichen Schriften nicht mehr kanonisch, sondern lediglich apokryph zu behandeln. Die Christen zögen sich somit aus dem Revier der Juden zurück.

Eine systematische Sackgasse?
Nur ein Problem bleibt. Der „Rückzug“ der Christen kann nicht komplett gelingen, wird der Jesus-Mythos im Neuen Testament doch mit einem dichten Netz aus Verweisen auf die alttestamentlichen Überlieferungen erzählt: Jesu Geburt, sein Verkünden, seine Passion, seine Auferstehung etc. – praktisch jede Szene der Handlung wird aus dem jüdisch-samaritanischen Horizont gedeutet oder gar als eine Manifestation der althergebrachten Prophezeiungen angesehen. Die Deutung der alttestamentlichen Texte bildet also einen konstitutiven und integralen Bestandteil des mythologischen Systems der Jesus-Erzählung.
(Vgl. die Argumentationsweise des Apostels Paulus, dessen Lebensdaten im übrigen durchaus fiktive Züge tragen:  1. Der „Sündenfall“ des ersten Menschen Adam rufe die Todesverfallenheit der Erdenbewohner hervor. 2. Also sei die gesamte nachkommende Menschheit, die diese Disposition geerbt habe, „erlösungsbedürftig“. 3. Die heilsnotwendige Erlösung aus ebendiesem Zustand bewerkstellige für die nachfolgende Generation der gekreuzigte und auferstandene „Mensch“ Jesus Christus, der „zweite Adam“.)

Das Problem ist schlechterdings systematischer Natur: Um das Alte Testament komplett aus dem verbindlichen Deutungsraum des Christentums zu verbannen, muss man systembedingt auch das Neue Testament aus dem Kanon streichen. Damit entfällt aber auch vollends der christliche Deutungsraum. Wo bleibt dann noch der messianische Aspekt der Jesus-Figur, der allein aus dem Spektrum israelitisch-jüdischer Religiosität heraus entstanden sein kann? Ist der Systematiker Slenczka in Wirklichkeit ein Atheist, der das Christentum systematisch von innen her aushöhlen möchte?  

Fragwürdige Traditionslinien

Um seinem dürftigen Systemgerüst mehr theologische Substanz zu verleihen, beruft sich Slenczka also auf Friedrich Schleiermacher, dessen Werken man dezidiert „antisemitische“ Tendenzen nachsagt, und Adolf von Harnack, der bereits vor einem Jahrhundert bedauert hat, dass Martin Luther nicht das Alte Testament den Apokryphen zugewiesen hatte.
Prof. Notger Slenczka, ganz philosemitisch eingestellt, scheint sich in letzter Zeit mit Verweisen auf Schleiermacher etwas zurückzuhalten. Umso mehr verteidigt er jenen großen Vertreter des Kulturprotestantismus, Adolf v. Harnack, da dieser mitnichten ein Antisemit gewesen sein könne, hat er doch seinerzeit als Sym­pathi­sant des „Abwehrvereins zur Bekämpfung des Antisemitismus“ bisweilen deutlich gegen den politischen, völkischen Antisemitismus Stellung bezogen.

„Trio Infernale des Antisemitismus“
A. Stoecker, H. Chamberlain, L. Müller
Tatsächlich fungierte von Harnack öffentlich als „Anti-Antisemit“, was aber keineswegs heißen soll, dass er ein aus­ge­machter „Philosemit“ war: Für die jüdische Kultur hat sich der bedeutende Theologe des letzten Jahrtausends weder sonderlich interessiert, noch brachte er ihr nennens­werte Wertschätzung entgegen. Vielmehr teilte er die seinerzeit weit verbreiteten negativen Ansichten über das Judentum, dessen „Volk“ es immer „schwer“ gehabt haben soll, „sich zu edler Menschlichkeit emporzufinden“. Für ihn waren also antisemitische Thesen durchaus legitime Meinungen und überhaupt keine ekelhafte Schandtat o.ä. – eine Einstellung, die freilich selbst bei den Bildungsbürgern Deutschlands vor 1945 nur allzu weit verbreitet war. Das erklärt auch den Umstand, dass Adolf v. Harnack gerne mit fragwürdigen Persönlichkeiten wie Adolf Stoecker, Houston Stewart Chamberlain u. Ludwig Müller fortgesetzten Kontakt pflegte. Und deutlich bemerkbar waren antijudaistische Tendenzen ja auch in seinen theologischen Schriften, worauf sich die Deutschen Christen gerne berufen haben.

Schließlich hielt v. Harnack das Judentum für religiös unterentwickelt, überholt, lieblos, nicht brüderlich, partikular, unwissend, unglaubend, sündig etc., womit er sich durchaus auch im Rahmen der damals populären Argumentationsmuster be­weg­te: Judentum als eine allseits einsetzbare, negativ konnotierte Folie, vor der sich die positive Selbstzuschreibung der eigenen (z.B. christlichen) Iden­ti­täts­merk­male kontrastiv abhebt. (Der Usus der Negativqualifizierung jüdischer Über­lie­fe­run­gen wird von Slenczka in teils nicht einmal besonders subtiler Manier fort­geführt: „Diese Parti­ku­la­rität stößt uns ab ...“)

Aufschlussreich hierzu ist der Befund von S. Lukas-Klein: „Harnacks jüdische Fremdheitskonstruktion ist von antisemitischen ‚Normalformen‘ geprägt. […]  In Harnacks Vorlesungen […] werden außerdem auf der theologischen Sprachebene antisemitische Vorurteile als wissenschaftliche Ergebnisse präsentiert“ (aus: „Das ist (christliche) Religion – Zur Konstruktion von Judentum, Katholizismus und Protestantismus in Adolf von Harnacks Vorlesungen über ‚Das Wesen des Christentums‘“, Reihe: Forum Christen und Juden, 2014).

(Unkritisch übernimmt Slenczka das jenem überholten Denkmuster von v. Harnack zugrundeliegende geschichtsphilosophische Modell, „nach dem das spätere Entwicklungsstadium jeweils das den vorangehenden Stadien gegenüber vollkommenere ist, in dem“, so Slenczka treuherzig und ungeniert, „das Verständnis des Gottesbegriffs zu klarerem Ausdruck gelangt“ – weshalb ausgerechnet einer deutschen Teilströmung des Protestantismus weitaus besser als dem schlechterdings jüdisch geprägten Autorenteam des Neuen Testaments sowie auch all dem vor- und außerreformatorischen Restbestand der Kirchen gelingen soll, das angeblich universale Wesen „des“ Christentums in seiner ver­meintlich radikalen Andersartigkeit gegenüber dem vorgeblich partikularen Judentum geistig zu erfassen; sind doch manche Kulturprotestanten Deutsch­lands zumindest gemäß Eigenwahrnehmung dem bislang höchsten Entwicklungs­stadium der Religionsgeschichte zuzuordnen. Ohne weiteres fungierte freilich die Distanz zum Judentum in den Augen vieler als zuverlässiger Parameter zur Fortschritts­messung.)    
Glaubhafte Verkörperung der christlichen Toleranz
Tragende Figur des
Kulturprotestantismus
Adolf von Harnack (1851-1930)
Angesichts dieser Tatbestände mag man sich fragen, wie denn die Person von v. Harnack sich überhaupt als „Gegner des Antisemitismus“ etikettieren lässt. Von Harnack handelte hier nämlich ganz im Sinne der christlichen Moral („universale Vaterliebe Gottes“; „Toleranz“): „Liebe deine Feinde“ heißt es im NT. Das heißt also, dass man als Christ bereit sein muss, selbst verfeindeten Personen, denen man vielleicht sonst nur Missgunst und Verachtung ent­gegenbringen mag, mit Milde und Barm­her­zig­keit zu begegnen. Dieser moralische Imperativ war wohl für v. Harnack auch im Hinblick auf das Juden­tum sehr wichtig; denn alles öffentliche, ag­gres­siv an­mu­tende Wirken der völkischen Anti­semiten würde demnach diese angeblich über­legene Moral des Chris­ten­tums gänzlich konterkarieren. Anders gesagt: Gerade in der Judenfrage vermag nach v. Harnack eine strukturelle Bestätigung der moralischen Überlegenheit des Christentums per anti-antisemitischen Ansatz gegenüber dem Judentum zu gelingen. (Nota bene: Für v. Harnack stand also die Abstandnahme von Antisemitismus namentlich mit der vom Evangelium ge­bo­te­nen Feindesliebe in Verbindung. Vgl. hierzu divers. Auseinandersetzungen mit v. Harnacks Positionen seitens des Rabbiners und Religionsphilosophen Leo Baeck [1873 – 1956].)

Im Klartext: Um die Kategorie der „Überlegenheit“ ging es also bei v. Harnack, verbunden mit dem Gestus einer jovialen Herablassung; nicht etwa um eine wertschätzendeAnerkennung des Anderen“ auf Augenhöhe. Die dabei wirksame Bedeutungsfacette des „Toleranz“-Begriffes, der nicht mit „Indifferenz“ zu assoziieren ist, dürfte übrigens für jeden altsprachlich Gebildeten nichts Fremdes sein: Das lat. Verb tolerare, von dem sich der Begriff ableitet, hat gemeinhin allein etwas schwer Erträgliches zum Gegenstand: militiam, tributa, hiemem (Militärdienst, Abgaben, Winterfrost) etc. – all das Unangenehme, was man der Not gehorchend erduldet.

(Beispiele aus v. Harnacks jovial-abwägenden Äußerungen zum zeitgenössischen Judentum:
„Ich bin nicht Antisemit, bemühe mich vielmehr, nach den Grundsätzen des Evangeliums Philosemit zu sein; es wird mir schwer. [...] In wirthschaftlichen Dingen giebt es zwar eine Judenfrage, in der Politik, wie mich meine Freunde versichern, ebenfalls. Und wenn wir lediglich wirthschaftliche oder politische Fragen behandelten, so ließe sich darüber reden. Wenn wir aber als Evangelische zusammentreten, dann müssen wir sagen: Die Schuld der Christen gegen die Juden ist nicht geringer als die Schuld, welche die Juden gegenüber den Christen haben. [...] Wir haben sie zu gewinnen, nachdem wir sie getreten haben.“ [Stellungnahme auf dem 1. Evangelisch-Sozialen Kongreß im Mai 1890]
„Wollen wir dem Volke doch helfen, dass es vorwärts kommt. Gewiß liegen hier große Gefahren; der schlimme Jude ist heute eine furchtbare Kalamität für uns; aber um so größer muß unsere Weisheit u. Liebe gegen sie sein.“ [Brief an Chamberlain, 24.11.1912]
An einer wirksamen Bekämpfung des Antisemitismus hat sich v. Harnack freilich nie beteiligt.)
Theologisches Paralleluniversum
Wir wollen uns hier in die theologischen Feinheiten der innerkirchlichen Debatte nicht weiter vertiefen. Der Verfasser stellt lediglich noch fest, dass die feinsinnigen „akademischen“ Diskurse im theologischen Elfenbeinturm anderswo keinerlei Relevanz mehr zu haben scheinen. Von Harnack vermochte seinerzeit noch mit seinen Thesen zur „Messianität Jesu“ öffentliche Aufmerksamkeit zu ernten. Das Bildungsbürgertum, das solchen Auseinandersetzungen einst allgemeine Relevanz beigemessen hat, existiert im heutigen Deutschland nicht mehr. „Macht doch, was Ihr wollt!“, rief letzten Jahres Hanna Liss, Professorin an der Jüdischen Hochschule Heidelberg, auf einer Podiumsdiskussion mit Slenczka und seinen Berufsgenossen (13. Juli 2015), um damit zu signalisieren, dass theologische Auseinandersetzungen unter evangelischen Professoren für Außenstehende im Grunde irrelevant sind.

Das heißt allerdings noch lange nicht, dass innerkirchliche Ereignisse keinerlei Einfluss in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hätten. Im globalisierten Netz-Zeitalter sind weltweit Multiplikatoren leichter mobilisierbar geworden, so dass über Slenczkas Thesen heutzutage selbst im fernen Japan diskutiert werden kann. Und wir stellen dabei fest, dass selbst für das Publikum ohne theologisches Tiefenverständnis innerkirchliche Debatten oftmals eine Art Signalwirkung zu haben scheinen. Mancherlei Aussagen und Maßnahmen beispielsweise unter dem Pontifikat Benedikts XVI. haben, wie wir leider in der Netzwelt konstatieren konnten, Anklang bei Personenkreisen gefunden, die durchaus antisemitisch orientiert sind.
Den Geruch des Antisemitismus werden auch Slenczkas Thesen leider nicht los, erkennen doch manche dort eine generelle „Abwertung“ der jüdischen Überlieferung. Der Eindruck, den der Ansatz Slenczkas durchaus vermittelt, dass etwas in Gänze gerade deswegen abqualifiziert werden soll, weil dieses eben jüdisch sei (velut: „weniger vollkommenes Verständnis des Gottesbegriffes“), scheint in der Tat geeignet, Antisemiten anzuziehen und in ihrer zweifelhaften Haltung zu ermuntern, zumal er sich unkritisch und ohne erkennbare Distanz eines historischen Betrachters auf die problematischen Traditionslinien und Denkmuster der kirchlichen Theologie bezieht, die im Kontext mit dem einst um sich greifenden Antisemitismus zu sehen sind.

Der humanistische Ansatz
Ganz anders und dadurch auch wesentlich differenzierter als Slenczka argumentiert Herr Elsner in seinem bemerkenswerten Artikel „Diskussionen in der Kirche – überflüssig oder notwendig?“. Zum einen verwirft er höflich den kruden Ansatz von Slenczka, das gesamte Alte Testament in toto dem ver­bindli­chen Kanon abspenstig zu machen, sondern plädiert für eine „deutliche Auswahl“: „Welche Texte des Alten Testaments sind (…) verbindlich? Welche Texte kann man übergehen oder sogar als missverständlich beiseitelassen.“ Zum anderen setzt Herr Elsner den Ansatzpunkt der Reflexion ganz anders an, indem er feststellt, dass „Teile des Alten Testaments für das heutige Glaubensverständnis zumindest missverständlich sein“ können. Für Slenczka fungierte der unkritische Umgang mit der historisch-kritischen Bibelforschung als quasi-dogmatischer Ausgangspunkt.

Setzt man das „heutige Glaubensverständnis“ als Orientierungspunkt der Debatte, eröffnen sich neue Perspektiven auch für einen kritischen Umgang mit der Heiligen Schrift insgesamt. Denn auch das Neue Testament ist für uns mittlerweile nicht mehr das Neueste und sorgt zumindest für Missverständnisse. Schwer verdaulich für moderne Gemüter ist beispielsweise die Passage im Markusevangelium (16, 16), in der es heißt: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.“ Unerträglich ist gar die Vorstellung eines kaltmachenden Gottes, der an denjenigen, die einmal weniger Kirchenabgaben zahlen möchten, mit Lebensberaubung ein Exempel statuiert (Apostelgeschichte 5,1-11). Entsprechend streng behandelt auch der Apostel Paulus seine glaubensabtrünnigen Genossen: „Zu ihnen gehören Hymenaios und Alexander, die ich dem Satan übergeben habe, damit sie gezüchtigt werden und nicht mehr lästern“ (1. Tim. 1, 20). Schließlich ist „Gott“ für Paulus „nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens wie in allen Gemeinden der Heiligen. Eure Frauen sollen in den Gemeinden schweigen; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie es auch das Gesetz sagt. Wenn sie aber etwas lernen wollen, so sollen sie daheim ihre eigenen Männer fragen; denn es ist für Frauen schändlich, in der Gemeinde zu reden“ (1. Kor. 14, 33 – 35).
Humanismus Gegengift gegen fanatische Abgründe?
Angesichts dieser durchaus kritischen Textbefunde stellt sich nun in aller Schärfe die Frage nach der Relevanz des Themas „Religion“ für die humanistische Bildung. Es wird wohl aufschlussreich sein, uns in dieser Angelegenheit namentlich auf den Ansatz von M. Tullius Cicero zurückzubesinnen: die Idee der humanitas, in welche die griechischen φιλανθρωπία (Menschenfreundlichkeit) und παιδεία (Bildung) zusammenfließen, hat eine Kultivierung der humanen Gesinnung zum Ziele. Dem zugeordnet ist auch der Anspruch, eine gründliche sprachlich-literarische Bildung zur Schärfung der Urteilskraft auszugestalten.

In der Tat vermag eine klassische altsprachliche Bildung dazu beizutragen, dass wir die implizierten Nuancen der tradierten Begriffe und Vorstellungen besser begreifen können. Gerade für manche Ausbildungs- und Studiengänge sollte daher eine Auswahl von alten Sprachen gar verpflichtend sein, wie Herr Elsner exemplarisch für die Ausbildung der ev. Theologen konstatiert hat.
Der Schlaf der Vernunft
gebiert Ungeheuer
Fr. de Goya, ca. 1797–1799
Jemand, der einmal die Texte von Augustinus im Original – d.h. ohne den abmildernden Filter einer Übersetzung – gelesen hat, wird sich auch mit den psychologischen Abgründen des religiösen Bewusstseins vertrauter gemacht haben. Irrationale Facetten jedweder Religion bergen freilich die Gefahr, den dunklen Abgrund im Menschen freizusetzen und inhumanen Tendenzen in der Gesellschaft Vorschub zu leisten. Sie können aber den Menschen auch als Triebfeder für positive Entwicklungen dienen.

„Unbedingt nötig“ wird also die Reflexion darüber, wie man den Umgang mit spirituellen Bedürfnissen in humane Formen bringt. Deswegen können wir Herrn Elsner nur beistimmen: „Wenn christlicher Glaube auch ein denkender Glaube ist, ist ein reflektiertes Schriftverständnis für einen evangelischen Theologen unumgänglich“ – unleugbar ein humanistischer Ansatz, der auch für andere Religionsgemeinschaften durchaus von Interesse sein dürfte, bietet doch die moderne Gesellschaft immerhin genügend Anknüpfungspunkte für humane Entfaltungsformen der Religiosität.
Das moderne Glaubensverständnis
Als Schreiber dieser Zeilen möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang noch eine passende Anekdote zum Thema „modernes Glaubensverständnis“ erzählen: Weniger erbarmungslos als der neutestamentliche Text, dafür aber umso andachtsvoller gestaltete sich im Hamburger Michel, namentlich in einer protestantischen Kirche, eine innovative spirituelle Zusammenkunft, die ich persönlich vor einigen Jahren miterleben durfte. Immer wieder erklang dort die meditative Silbe „Oommm …“, als finde das Ganze irgendwo in Indien oder Tibet statt, während sich die TeilnehmerInnen mit geschlossenen Augen in kontemplativer Meditation übten. Zwischendurch hallten in sanft-exotischen Weisen altgriechische und hebräische sowie auch – soweit sich es identifizieren ließ – arabische, koptische und sonstige ortsfremd klingende Lieder. „Gott liebt alle Menschen und alle Kulturen“, erzählte mir im Anschluss an diese spirituelle Runde der weltoffene Pastor, der das innovative Ritual leitete, und schwärmte mir von der Versöhnung aller Religionen vor. Eine Teilnehmerin legte mir dar, wie sehr sie dort in der Kirche die „Verschmelzung mit der allumfassend liebenden Gottheit“ genieße, die sie „in meditativer Andacht unmittelbar an ihrem Körper verspüre“.

Diese weltoffene Form des Umganges mit Traditionen aller Welt hat mich, Mitglied der Römisch-Katholischen Kirche in Japan, äußerst beeindruckt. Ohne von irgendeinem Zentrum dirigiert zu werden, vermag die weltoffene protestantische Kirche in ihren autonomen Gemeinde-Einheiten dem mannigfaltigen Spektrum des modernen Glaubensverständnisses vielleicht weitaus besser gerecht zu werden als die römische Kirche.
Der schillernden Vielfalt der religiösen Glaubensorientierungen entspricht übrigens auch der aktuelle Angebotsreichtum auf dem Markt der spirituellen Erweiterung. Zu finden sind dort beispielsweise: Wellness-Buddhismus, ANKH-Samahan-Weisheits-Essenz, „Artemisia Nemeton“ – Schule der Druiden, Hawaiianischer Hula-Tanz, Sunna, Hare-Krishna, Seelenplan mit Engelsgruppen, Zen-Meditation, Ki-ÜbungenUFO-Gläubige, Erdstrahlensucher, Telepathische Tierkommunikation, Tibetanische Klangschalenmassage, Fengshui, Yoga …  last but not least: Hochschule für Angewandte Obstmystik und Plastische Psychiatrie.

Conclusio
Da wir nun die Tiefen und Untiefen der Theologie durchaus studiert haben – wenn auch vielleicht nicht auf Hochschulniveau –, bleibt für uns zum Schluss noch die Gretchenfrage: Wie halten wir es überhaupt mit der Religion?

Denn ist es nicht so, dass eine solche Frage für die Humanisten der Relevanz entbehrt: im Focus steht zunächst einmal der „Mensch“. Was bedeutet es also überhaupt, „Christ“ oder „Buddhist“ zu sein? Ob „Muslima“ oder „Obstmystiker“? Ob „Hula-Tänzerin“ oder „Atheist“? Ob „Samaritaner“ oder „Zöllner“? … Was spielen diese „partikularen“ Trennlinien schon für eine Rolle, wenn es in erster Linie gilt, das „Menschliche“ in uns zu kultivieren?
Allerdings, irgendeine Bewandtnis wird die dunkle, irrationale oder eben auch religiöse Facette in uns wohl immer haben. Das abgründige Leiden an der Vergänglichkeit, Furcht vor dem Tod: Die einen üben sich durch fortgesetzte Meditation im „heiteren Ertragen des Unvermeidlichen“. Die anderen suchen im Anschluss an ein mythologisches System nach einem Ausblick auf das „Leben nach dem Tod“. Das Dilemma, was uns alle heimsucht, bleibt: die Vorahnung des Nichts, des endgültigen Verlöschens. Nicht auslöschbar bleibt für nicht wenige jedoch die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, Hoffnung auf Reinkarnation, Gier nach ewigem Nachruhm oder Wunschbild der Auferstehung. Und Diskussionen über die Kirchen werden uns, so Gott will, wohl weiterhin noch beschäftigen.

Also erneut die Gretchenfrage: Wie halten wir Humanisten es mit der Religion? Gibt es da überhaupt eine eindeutige Antwort? Und wenn ja, wie mag sie lauten?
Soll sie vielleicht heißen: „Da steh ich nun, ich armer Thor, und binn so klug als wie zuvor“? Oder einfach: „Hier mus ein jeder nach Seiner Faßon Selich werden“? Wenn nicht gar: „Ignoramus, ignorabimus“? Ferner: „Quot homines, tot sententiae“? „Γνῶθι σεαυτόν“? „色即是空“? „תֹ֙הוּ֙ וָבֹ֔הוּ“? … – Ein wahrer Humanist aus Großbritannien würde vielleicht einfach mit den Schultern zucken und uns den guten Rat geben:

Always look on the bright side of life ...

4 Kommentare:

  1. Paul Wakai fragt hier: "Ist der Systematiker Slenczka in Wirklichkeit ein Atheist, der das Christentum systematisch von innen her aushöhlen möchte?"
    Ich stelle allerdings die Frage, ob der Autor dieses Artikels nicht selber ein Atheist ist, wenn er dermaßen gründlich die Religion zerpflückt.
    Außerdem frage ich mich, ob er Slenczka wirklich unterstellen will, tatsächlich aus antijüdischer Motivation zu handeln.
    Trotz einiger Fragen, die hier noch ungelöst bleiben: Es hat mir viel Spaß gemacht, diesen langen Text zu lesen. Man lernt ja viel dabei.

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  2. Lieber Herr Anonymus,

    vielen Dank für Ihren Kommentar!

    Sie fragen sich, ob ich "Slenczka wirklich unterstellen will, tatsächlich aus antijüdischer Motivation zu handeln". Wenn Sie mich gefragt hätten, hätte ich Ihnen folgende Antwort gegeben:

    Ich will Herrn Slenczka, den ich persönlich nicht einmal kenne, nichts unterstellen. Was ich freilich von seinen Thesen halte, ist unverkennbar in meinem Text nachzulesen: Seine Thesen sind nämlich weder wissenschaftlich fundiert (überholtes Textverständnis, zweifelhaftes Geschichtsverständnis etc.), noch systematisch konsistent, noch werden sie den Geruch des Antisemitismus los, weil sie unkritisch problematische Persönlichkeiten und Konzeptionen aus der Vergangenheit zitieren, die für den gegenwärtigen Diskurs wieder hoffähig gemacht werden sollen – bedenkliche Denkmuster immerhin, die seit jeher als konstitutiver Ansatzpunkt antisemitischer Mythenkonstruktionen fungierten. (Weiterführende Reflexionen hierüber siehe unten im PS-Teil.)

    Sie meinen, ich hätte "dermaßen gründlich die Religion zerpflückt." Da wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir bitte irgendeine Stelle in meinem Text nennen würden, wo ich das überhaupt getan haben soll. Vornehmlich geht es ja in meinem Beitrag darum, Formen und Möglichkeiten humaner Entfaltung von spirituellen Bedürfnissen auszuloten im Hinblick auf die Frage: "Wie halten wir Humanisten es mit der Religion?"

    Als "Atheisten" würde ich mich nicht bezeichnen, und immerhin sind christliche Traditionen mir als Mitglied der Römisch-Katholischen Kirche in Japan kein "Ausdruck eines fremden religiösen Bewusstseins". So ist es selbstredend auch kein Zufall, dass ich den obigen Aufsatz zu religiös-humanistischen Grundsatzfragen ausgerechnet am Karfreitag (25. März 2016) veröffentlicht habe. Christliche Konfessionen dürfen sich durchaus heimisch in Japan fühlen, einem Lande, in welchem laut herkömmlicher Shintô-Tradition an die 8 Millionen Gottheiten (präsent als Penis-Figur, Plüschtierchen, Regenschirm mit ausgestreckter Zunge etc.) unterwegs sein sollen. Ein zusätzlicher Gott mehr stört da niemanden.

    Der Umgang mit spirituellen Traditionen in Japan gibt einem interessierten Beobachter im Übrigen auch wertvolle Hinweise auf die Zustände der vorchristlichen Antike des Abendlandes: Was einem "fremd" aus einer anderen Kultursphäre erscheint, wird durch näheres Betrachten auf einmal als Teil eigener Herkunft erkennbar. So darf ein Humanist das "Bekenntnis" aussprechen, in dessen Focus erst einmal der "Mensch" steht: "Homo sum; humani nil a me alienum esse puto." (Ein Mensch bin ich; nichts Menschliches halte ich für fremd.)

    Einen schönen Himmelfahrtstag wünscht Ihnen

    P. M. Wakai

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  3. PS: Wir sollten bei dieser Reflexion den Blick einmal über den Eierbecherhorizont des theologischen Elfenbeinturms erheben, sind doch in zahlreichen Milieus der Gesellschaft ähnliche Erscheinungsformen im Umgang mit bereits überwunden geglaubten Denkmustern identifizierbar: die einst im Laufe der Nachkriegszeit mit Tabu belegten Gedankenfiguren und ideologischen Konstrukte verlieren ihr Stigma, werden hoffähig und liefern mitunter den Unterbau für ressentimentgeladene Bewegungen, auf die sich beispielsweise auch politische Gruppierungen wie die AfD stützen können. Solcherlei Mechanismen treten derzeit auch im fernen Japan, meinem Heimatland, zutage, wo unser amtierende Premierminister selbst eine Enttabuisierungswelle einst überwunden geglaubter Werte vorantreibt. Nationalchauvinistische Denkweise und militärische Großmachtphantasien werden so bei uns allmählich "en vogue ". Über diese gegenwärtige Entwicklung gibt es natürlich bei uns sowohl "Begeisterte" als auch "Besorgte". Und beide Seiten richten übrigens ihr Augenmerk – aus je unterschiedlicher Motivation – auf die in den unterschiedlichen Milieus Deutschlands stattfindenden Diskurse. Das große Interesse seitens der Japaner an deutschen Begebenheiten hat ja Tradition. Nicht nur die AfD gerät dabei in den Focus. Auch innerkirchliche Debatten gehören dazu.

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  4. Der Theologe Notger Slenczka hat es bestimmt gut gemeint: Wir Christen dürfen die Überlieferung der Juden nicht einfach vereinnahmen und sie für unsere Zwecke mißbrauchen. Wir hätten uns nämlich schon längst davor hüten müssen, im gleichen Haus Gottes der Juden uns einzuquartieren. Also gilt es für uns Christen, so Prof. Slenczka, schnellstmöglich das "jüdische Wohnzimmer" zu verlassen, dessen Hälfte einst das Christentum bedenkenlos okkupiert hat.

    Mag sein, daß systematisch einiges an der Theorie von Professor Slenczka im argen liegt, wie Wakai in seinem Artikel glaubhaft ausführt. Dennoch erscheinen die von ihm kritisch diskutierten Thesen durchaus plausibel: Wir wollen ja alle eigentlich nicht, daß sich "fremde Elemente" in unserer vertrauten Heimstätte ("Wohnzimmer") breitmachen. So wenig der Islam zu uns gehört, so wenig werden wir Christen mit dem Judentum wirklich was anfangen können, wie Prof. Slenczka in seinen wissenschaftlichen Ausführungen bereits nachgewiesen hat. Für eine "klare" Trennungslinie zwischen einander fremden Kulturen ("kontaminationsfreie Zone") sind wir doch alle!

    Deswegen wissen wir nämlich auch jene Politiker zu schätzen, die sich für die Reinhaltung der abendländischen Kultur leidenschaftlich einsetzen und folglich alles dafür tun, daß es uns durch Überfremdung eines Tages nicht so ergeht wie den Ureinwohnern Amerikas. Diese wurden von "fremden Europäern" größtenteils fast ausgerottet und der Rest in Reservate verbannt. Früher, in Zeiten von Schleiermacher und Harnack, hat man über solche Themen noch ganz offen und ehrlich in Deutschland reden können. Warum sollten wir nicht auch heute noch darüber (theologisch wie politisch) diskutieren dürfen? Was wir in Deutschland erneut brauchen, ist ein Klima der "Toleranz gegenüber Andersdenkenden"!

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