Kirche und Humanismus – in
Großbritannien sehen viele darin einen Gegensatz. Wahre Humanisten seien ihnen
zufolge diejenigen, „die sich von der Furcht vor Gott und dem Orcus befreit
hätten“, wie der allseits bekannte Latinist Prof. Wilfried Stroh in seinem
lateinischen Vortrag vom 22. Juli 2007 zum Thema Humanismus referierte: qui se a timore dei Orcique liberaverint. Offenbar herrscht
in Baden-Württemberg eine andere Tradition. „Diskussionen in der Kirche –überflüssig oder notwendig?“ – so das
Thema des beachtenswerten Artikels, den Dietrich Elsner, langjähriges Mitglied
des Vorstandes unserer Humanistenvereinigung, für diese Seite gepostet hat. Wir
werden sehen, warum ein solcher Artikel nicht nur für die württembergischen
Humanisten durchaus von Interesse sein könnte.
„‚Gehört das ganze Alte Testament
weiterhin zur verbindlichen Sammlung biblischer Schriften?‘ Oder müsste man
nicht innerhalb dieser Sammlung eine deutliche Auswahl erarbeiten, damit die
Botschaft des evangelisch verstandenen Glaubens deutlicher wird“, lautet die
Kernfrage, die Herr Elsner in seinem Artikel vom 16. März stellt, denn „es ist
nicht zu leugnen, dass weite Teile des Alten Testaments für das heutige
Glaubensverständnis zumindest missverständlich sein“ können. Dabei bezieht er sich
auf eine strittige Debatte, angestoßen von einem Professor für „Systematische
Theologie“ Notger Slenczka an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Streitbarer Theologe |
Prof. Dr. Notger Slenczka |
・Slenczkas Thesen
kurz zusammengefasst
Gerade bei einer derartig
erbitterten Auseinandersetzung wird es notwendig, dafür zu sorgen, dass die
erhitzten Gemüter sich abkühlen. Kurz mal innezuhalten und in aller Ruhe die
Wiederkehr der Vernunft einzuleiten, um ein nüchternes Nachdenken über die
Materie zu ermöglichen: die Zeit für eine „humanistische Verschnaufpause“ ist
gekommen! A. von Harnack, Fr. Schleiermacher |
・Methodische
Fragwürdigkeiten der Slenczka -Theologie
JHW(H) auf einem Flügelrad |
Münze aus der Spätperserzeit, 4. Jh. v. Chr. |
(Der Haken an der Sache: Die Fragestellung an sich, ob ein Schriftkorpus irgendjemanden/irgendetwas an jdn. „verkündigt“ oder nicht [das christliche „Kerygma“], ist keine haltbare Kategorie in der historischen Wissenschaft. Der „ursprüngliche und erste Sinn“, der für die Bibelexegese laut Slenczka „der maßgebliche“ sein soll, lässt sich bei den fraglichen Texten ja erst gar nicht ermitteln. Ebenso kritisch verhält es sich mit dem Rekonstruktionsversuch eines einheitlichen „religiösen Bewusstseins“. Vollends unzulässig erscheint das Unterfangen von Professor Slenczka, aus solchen fehlgeleiteten Grundannahmen rechtfertigende od. normative Schlüsse ziehen zu wollen.)
Längst hat die Wissenschaft freilich erwiesen, dass es weder einen einheitlichen, über die Zeiten ungebrochenen „Israel“-Begriff noch eine beglaubigte Ansprache irgendeines Gottes (= welcher denn? Seth, Baal, El Shaddai, El Elyon, El Berit, El Olam – all diese Figuren flossen in JHWH ein, als dieser von einer einfachen Gottheit nach und nach zu „Gott“ [„Elohim“, Plural!] erhoben wurde) an irgendeine geschlossen-einheitliche, auserwählte Gruppierung gegeben hat. In historischer Hinsicht haben sakrale Überlieferungen u.a. die Funktion, Spannungen in einer heterogenen Gemeinschaft auszugleichen oder auch rivalisierende Gruppierungen und Stämme in eine Gemeinschaft einzugliedern. Dabei werden redaktionelle Überarbeitungen, Neukonzipierungen und Erweiterungen des Kanons sowie auch sonstige umdeutende Anpassungen der Schriften an die jeweiligen Bedürfnisse der Zeit vorgenommen, weshalb auch die Bibel eine Fülle von teils widersprüchlichen Überlieferungsschichten kennt. Vergessen wir nicht, dass wichtige Überlieferungsstränge des Pentateuchs in jene Zeiten zurückreichen, als die alttestamentliche Gottheit „JHWH“ manchenorts neben der weiblichen Ashera, vermutl. mit der hellenistischen Astarte und der altägyptischen Isis verwandt, verehrt wurde (vgl. Tonfiguren zwischen 8. u. 6. Jhd. v. Chr.) oder gar in keinem Bezug zum Begriff „Israel“ stand (vgl. Inschrift aus der Zeit Amenophis III., 14. Jhd. v. Chr. sowie Liste aus der Zeit Ramses II., 13. Jhd. v. Chr.).
„Vollbrüstige Gattin Gottes“ |
Ashera-Figur, 8. Jh. v. Chr. |
・Der
Antisemitismus-Vorwurf
Nicht die methodische
Inkonsistenz freilich von Slenczkas Thesen erregte die Gemüter in der
Öffentlichkeit. Da war beispielsweise von einer „Herabwürdigung“ der jüdischen
Überlieferungen die Rede, da sie als „nicht mehr relevant“ eingestuft würden,
als könne man „diese auch schon ad acta tun“
(Joel Berger). Auch Parallelen zur Traditionslinie des deutschen
Kulturprotestantismus wurden gezogen. Jene verhängnisvolle Linie hatte einst
ideologisch den Boden bereitet für die rassistisch-antisemitischen Bewegungen
der Deutschen Christen im Dritten Reich, die alles Jüdische aus der
christlichen Bibel und Religion verbannen wollten. Eine erneute Bezugnahme
darauf werde „über kurz oder lang wieder dazu führen, dass es einen arischen
Jesus geben soll“, so die Stellungnahme des Berliner Rabbiners Andreas Nachama.
Es ist der unheilvolle Geist des
Antisemitismus, den man erneut in Deutschland auferstanden wähnt. Wir sollten
allerdings mit derlei polemischen Vorwürfen sehr vorsichtig umgehen, zumal das
Etikett „antisemitisch“, einmal ausgesprochen, den Ruf eines Menschen ruinieren
kann. Oft geht eine solch unnachsichtige Etikettierung mit unproduktivem
„Schwarz-Weiß-Denken“ bzw. „Freund-Feind-Schema“ einher, das uns vergessen
lässt, die Dinge auch in Zwischentönen zu begreifen.
Und siehe: Eine judenfreundliche
Lesart der Slenczka-Thesen liefert der Urheber selbst. Es gehe nicht an, dass
die Christen mit ihrem „Deutungsanspruch“ das Alte Testament für sich
vereinnahmten, welches ja ausschließlich den Juden zustehe. Diese wohlgemeinte
(aber keineswegs historisch haltbare) Idee mündet in den Vorschlag, die
alttestamentlichen Schriften nicht mehr kanonisch, sondern lediglich apokryph
zu behandeln. Die Christen zögen sich somit aus dem Revier der Juden zurück.
・Eine
systematische Sackgasse?
Nur ein Problem bleibt. Der
„Rückzug“ der Christen kann nicht komplett gelingen, wird der Jesus-Mythos im
Neuen Testament doch mit einem dichten Netz aus Verweisen auf die
alttestamentlichen Überlieferungen erzählt: Jesu Geburt, sein Verkünden, seine
Passion, seine Auferstehung etc. – praktisch jede Szene der Handlung wird aus
dem jüdisch-samaritanischen Horizont gedeutet oder gar als eine Manifestation
der althergebrachten Prophezeiungen angesehen. Die Deutung der
alttestamentlichen Texte bildet also einen konstitutiven und integralen
Bestandteil des mythologischen Systems der Jesus-Erzählung. (Vgl. die Argumentationsweise des Apostels Paulus, dessen Lebensdaten im übrigen durchaus fiktive Züge tragen: 1. Der „Sündenfall“ des ersten Menschen Adam rufe die Todesverfallenheit der Erdenbewohner hervor. 2. Also sei die gesamte nachkommende Menschheit, die diese Disposition geerbt habe, „erlösungsbedürftig“. 3. Die heilsnotwendige Erlösung aus ebendiesem Zustand bewerkstellige für die nachfolgende Generation der gekreuzigte und auferstandene „Mensch“ Jesus Christus, der „zweite Adam“.)
Das Problem ist schlechterdings
systematischer Natur: Um das Alte Testament komplett aus dem verbindlichen Deutungsraum des Christentums zu verbannen, muss man systembedingt auch das Neue Testament aus
dem Kanon streichen. Damit entfällt aber auch vollends der christliche
Deutungsraum. Wo bleibt dann noch der messianische Aspekt der Jesus-Figur, der
allein aus dem Spektrum israelitisch-jüdischer Religiosität heraus entstanden sein
kann? Ist der Systematiker Slenczka in Wirklichkeit ein Atheist, der das
Christentum systematisch von innen her aushöhlen möchte?
・Fragwürdige
Traditionslinien
Um seinem dürftigen Systemgerüst
mehr theologische Substanz zu verleihen, beruft sich Slenczka also auf
Friedrich Schleiermacher, dessen Werken man dezidiert „antisemitische“
Tendenzen nachsagt, und Adolf von Harnack, der bereits vor einem Jahrhundert
bedauert hat, dass Martin Luther nicht das Alte Testament den Apokryphen
zugewiesen hatte.
Prof. Notger Slenczka, ganz
philosemitisch eingestellt, scheint sich in letzter Zeit mit Verweisen auf
Schleiermacher etwas zurückzuhalten. Umso mehr verteidigt er jenen großen Vertreter des Kulturprotestantismus, Adolf
v. Harnack, da dieser mitnichten ein Antisemit gewesen sein könne, hat er doch
seinerzeit als Sympathisant des „Abwehrvereins zur Bekämpfung des Antisemitismus“ bisweilen
deutlich gegen den politischen, völkischen Antisemitismus Stellung bezogen. „Trio Infernale des Antisemitismus“ |
A. Stoecker, H. Chamberlain, L. Müller |
Schließlich hielt v. Harnack das Judentum für religiös unterentwickelt, überholt, lieblos, nicht brüderlich, partikular, unwissend, unglaubend, sündig etc., womit er sich durchaus auch im Rahmen der damals populären Argumentationsmuster bewegte: Judentum als eine allseits einsetzbare, negativ konnotierte Folie, vor der sich die positive Selbstzuschreibung der eigenen (z.B. christlichen) Identitätsmerkmale kontrastiv abhebt. (Der Usus der Negativqualifizierung jüdischer Überlieferungen wird von Slenczka in teils nicht einmal besonders subtiler Manier fortgeführt: „Diese Partikularität stößt uns ab ...“)
Aufschlussreich hierzu ist der Befund von S. Lukas-Klein: „Harnacks jüdische Fremdheitskonstruktion ist von antisemitischen ‚Normalformen‘ geprägt. […] In Harnacks Vorlesungen […] werden außerdem auf der theologischen Sprachebene antisemitische Vorurteile als wissenschaftliche Ergebnisse präsentiert“ (aus: „Das ist (christliche) Religion – Zur Konstruktion von Judentum, Katholizismus und Protestantismus in Adolf von Harnacks Vorlesungen über ‚Das Wesen des Christentums‘“, Reihe: Forum Christen und Juden, 2014).
(Unkritisch übernimmt Slenczka das jenem überholten Denkmuster von v. Harnack zugrundeliegende geschichtsphilosophische Modell, „nach dem das spätere Entwicklungsstadium jeweils das den vorangehenden Stadien gegenüber vollkommenere ist, in dem“, so Slenczka treuherzig und ungeniert, „das Verständnis des Gottesbegriffs zu klarerem Ausdruck gelangt“ – weshalb ausgerechnet einer deutschen Teilströmung des Protestantismus weitaus besser als dem schlechterdings jüdisch geprägten Autorenteam des Neuen Testaments sowie auch all dem vor- und außerreformatorischen Restbestand der Kirchen gelingen soll, das angeblich universale Wesen „des“ Christentums in seiner vermeintlich radikalen Andersartigkeit gegenüber dem vorgeblich partikularen Judentum geistig zu erfassen; sind doch manche Kulturprotestanten Deutschlands zumindest gemäß Eigenwahrnehmung dem bislang höchsten Entwicklungsstadium der Religionsgeschichte zuzuordnen. Ohne weiteres fungierte freilich die Distanz zum Judentum in den Augen vieler als zuverlässiger Parameter zur Fortschrittsmessung.)
・Glaubhafte
Verkörperung der christlichen Toleranz
Tragende Figur des Kulturprotestantismus |
Adolf von Harnack (1851-1930) |
Im Klartext: Um die Kategorie der
„Überlegenheit“ ging es also bei v. Harnack, verbunden mit dem Gestus einer
jovialen Herablassung; nicht etwa um eine wertschätzende „Anerkennung des
Anderen“ auf Augenhöhe. Die dabei wirksame Bedeutungsfacette des „Toleranz“-Begriffes,
der nicht mit „Indifferenz“ zu assoziieren ist, dürfte übrigens für jeden
altsprachlich Gebildeten nichts Fremdes sein: Das lat. Verb tolerare, von dem sich der Begriff ableitet, hat gemeinhin
allein etwas schwer Erträgliches zum Gegenstand: militiam,
tributa, hiemem
(Militärdienst, Abgaben, Winterfrost) etc. – all das Unangenehme, was man der
Not gehorchend erduldet.
(Beispiele aus v. Harnacks jovial-abwägenden Äußerungen zum zeitgenössischen Judentum:
An einer wirksamen Bekämpfung des Antisemitismus hat sich v. Harnack freilich nie beteiligt.)
(Beispiele aus v. Harnacks jovial-abwägenden Äußerungen zum zeitgenössischen Judentum:
・ | „Ich bin nicht Antisemit, bemühe mich vielmehr, nach den Grundsätzen des Evangeliums Philosemit zu sein; es wird mir schwer. [...] In wirthschaftlichen Dingen giebt es zwar eine Judenfrage, in der Politik, wie mich meine Freunde versichern, ebenfalls. Und wenn wir lediglich wirthschaftliche oder politische Fragen behandelten, so ließe sich darüber reden. Wenn wir aber als Evangelische zusammentreten, dann müssen wir sagen: Die Schuld der Christen gegen die Juden ist nicht geringer als die Schuld, welche die Juden gegenüber den Christen haben. [...] Wir haben sie zu gewinnen, nachdem wir sie getreten haben.“ [Stellungnahme auf dem 1. Evangelisch-Sozialen Kongreß im Mai 1890] |
・ | „Wollen wir dem Volke doch helfen, dass es vorwärts kommt. Gewiß liegen hier große Gefahren; der schlimme Jude ist heute eine furchtbare Kalamität für uns; aber um so größer muß unsere Weisheit u. Liebe gegen sie sein.“ [Brief an Chamberlain, 24.11.1912] |
・Theologisches
Paralleluniversum
Wir wollen uns hier in die
theologischen Feinheiten der innerkirchlichen Debatte nicht weiter vertiefen.
Der Verfasser stellt lediglich noch fest, dass die feinsinnigen „akademischen“
Diskurse im theologischen Elfenbeinturm anderswo keinerlei Relevanz mehr zu
haben scheinen. Von Harnack vermochte seinerzeit noch mit seinen Thesen zur
„Messianität Jesu“ öffentliche Aufmerksamkeit zu ernten. Das Bildungsbürgertum,
das solchen Auseinandersetzungen einst allgemeine Relevanz beigemessen hat,
existiert im heutigen Deutschland nicht mehr. „Macht doch, was Ihr wollt!“,
rief letzten Jahres Hanna Liss, Professorin an der Jüdischen Hochschule Heidelberg, auf einer Podiumsdiskussion mit Slenczka und seinen Berufsgenossen
(13. Juli 2015), um damit zu signalisieren, dass theologische
Auseinandersetzungen unter evangelischen Professoren für Außenstehende im Grunde
irrelevant sind.
Das heißt allerdings noch lange
nicht, dass innerkirchliche Ereignisse keinerlei Einfluss in gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen hätten. Im globalisierten Netz-Zeitalter sind weltweit
Multiplikatoren leichter mobilisierbar geworden, so dass über Slenczkas Thesen
heutzutage selbst im fernen Japan diskutiert werden kann. Und wir stellen dabei
fest, dass selbst für das Publikum ohne theologisches Tiefenverständnis
innerkirchliche Debatten oftmals eine Art Signalwirkung zu haben scheinen.
Mancherlei Aussagen und Maßnahmen beispielsweise unter dem Pontifikat Benedikts
XVI. haben, wie wir leider in der Netzwelt konstatieren konnten, Anklang bei
Personenkreisen gefunden, die durchaus antisemitisch orientiert sind.
Den Geruch des Antisemitismus
werden auch Slenczkas Thesen leider nicht los, erkennen doch manche dort eine
generelle „Abwertung“ der jüdischen Überlieferung. Der Eindruck, den der Ansatz Slenczkas durchaus vermittelt, dass
etwas in Gänze gerade deswegen abqualifiziert werden soll, weil dieses eben
jüdisch sei (velut: „weniger vollkommenes Verständnis des Gottesbegriffes“), scheint in der Tat geeignet, Antisemiten anzuziehen und in ihrer
zweifelhaften Haltung zu ermuntern, zumal er sich unkritisch und ohne erkennbare Distanz eines historischen Betrachters auf die problematischen
Traditionslinien und Denkmuster der kirchlichen Theologie bezieht, die im Kontext mit dem
einst um sich greifenden Antisemitismus zu sehen sind.
・Der humanistische
Ansatz
Ganz anders und dadurch auch
wesentlich differenzierter als Slenczka argumentiert Herr Elsner in seinem
bemerkenswerten Artikel „Diskussionen in der Kirche – überflüssig oder
notwendig?“. Zum einen verwirft er höflich den kruden Ansatz von Slenczka, das gesamte Alte Testament in toto dem
verbindlichen Kanon abspenstig zu machen, sondern plädiert für eine „deutliche Auswahl“: „Welche
Texte des Alten Testaments sind (…) verbindlich? Welche Texte kann man
übergehen oder sogar als missverständlich beiseitelassen.“ Zum anderen setzt
Herr Elsner den Ansatzpunkt der Reflexion ganz anders an, indem er feststellt,
dass „Teile des Alten Testaments für das heutige Glaubensverständnis zumindest
missverständlich sein“ können. Für Slenczka fungierte der unkritische Umgang mit
der historisch-kritischen Bibelforschung als quasi-dogmatischer Ausgangspunkt.
Setzt man das „heutige
Glaubensverständnis“ als Orientierungspunkt der Debatte, eröffnen sich neue
Perspektiven auch für einen kritischen Umgang mit der Heiligen Schrift insgesamt.
Denn auch das Neue Testament ist für uns mittlerweile nicht mehr das Neueste
und sorgt zumindest für Missverständnisse. Schwer verdaulich für moderne
Gemüter ist beispielsweise die Passage im Markusevangelium (16, 16), in der es
heißt: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht
glaubt, der wird verdammt werden.“ Unerträglich ist gar die Vorstellung eines
kaltmachenden Gottes, der an denjenigen, die einmal weniger Kirchenabgaben
zahlen möchten, mit Lebensberaubung ein Exempel statuiert (Apostelgeschichte 5,1-11). Entsprechend streng behandelt auch der Apostel Paulus seine
glaubensabtrünnigen Genossen: „Zu ihnen gehören Hymenaios und Alexander, die
ich dem Satan übergeben habe, damit sie gezüchtigt werden und nicht mehr lästern“
(1. Tim. 1, 20). Schließlich ist „Gott“ für Paulus „nicht ein Gott der
Unordnung, sondern des Friedens wie in allen Gemeinden der Heiligen. Eure
Frauen sollen in den Gemeinden schweigen; denn es ist ihnen nicht gestattet zu
reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie es auch das Gesetz sagt. Wenn
sie aber etwas lernen wollen, so sollen sie daheim ihre eigenen Männer fragen;
denn es ist für Frauen schändlich, in der Gemeinde zu reden“ (1. Kor. 14, 33 –
35).
・Humanismus – Gegengift gegen fanatische Abgründe?
Angesichts dieser durchaus
kritischen Textbefunde stellt sich nun in aller Schärfe die Frage nach der
Relevanz des Themas „Religion“ für die humanistische Bildung. Es wird wohl
aufschlussreich sein, uns in dieser Angelegenheit namentlich auf den Ansatz von
M. Tullius Cicero zurückzubesinnen: die Idee der humanitas,
in welche die griechischen φιλανθρωπία (Menschenfreundlichkeit) und παιδεία (Bildung) zusammenfließen, hat eine Kultivierung
der humanen Gesinnung zum Ziele. Dem zugeordnet ist auch der Anspruch, eine
gründliche sprachlich-literarische Bildung zur Schärfung der Urteilskraft
auszugestalten.
In der Tat vermag eine klassische
altsprachliche Bildung dazu beizutragen, dass wir die implizierten Nuancen der
tradierten Begriffe und Vorstellungen besser begreifen können. Gerade für
manche Ausbildungs- und Studiengänge sollte daher eine Auswahl von alten
Sprachen gar verpflichtend sein, wie Herr Elsner exemplarisch für die
Ausbildung der ev. Theologen konstatiert hat.
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer |
Fr. de Goya, ca. 1797–1799 |
„Unbedingt nötig“ wird also die
Reflexion darüber, wie man den Umgang mit spirituellen Bedürfnissen in humane
Formen bringt. Deswegen können wir Herrn Elsner nur beistimmen: „Wenn
christlicher Glaube auch ein denkender Glaube ist, ist ein reflektiertes
Schriftverständnis für einen evangelischen Theologen unumgänglich“ – unleugbar
ein humanistischer Ansatz, der auch für andere Religionsgemeinschaften durchaus
von Interesse sein dürfte, bietet doch die moderne Gesellschaft immerhin
genügend Anknüpfungspunkte für humane Entfaltungsformen der Religiosität.
・Das moderne
Glaubensverständnis
Diese weltoffene Form des
Umganges mit Traditionen aller Welt hat mich, Mitglied der Römisch-Katholischen
Kirche in Japan, äußerst beeindruckt. Ohne von irgendeinem Zentrum dirigiert zu
werden, vermag die weltoffene protestantische Kirche in ihren autonomen
Gemeinde-Einheiten dem mannigfaltigen Spektrum des modernen
Glaubensverständnisses vielleicht weitaus besser gerecht zu werden als die
römische Kirche.
Der schillernden Vielfalt der
religiösen Glaubensorientierungen entspricht übrigens auch der aktuelle
Angebotsreichtum auf dem Markt der spirituellen Erweiterung. Zu finden sind
dort beispielsweise: Wellness-Buddhismus, ANKH-Samahan-Weisheits-Essenz,
„Artemisia Nemeton“ – Schule der Druiden, Hawaiianischer Hula-Tanz, Sunna,
Hare-Krishna, Seelenplan mit Engelsgruppen, Zen-Meditation, Ki-Übungen, UFO-Gläubige,
Erdstrahlensucher, Telepathische Tierkommunikation, Tibetanische Klangschalenmassage, Fengshui, Yoga … last but not least: Hochschule für Angewandte Obstmystik und Plastische Psychiatrie.
・Conclusio
Da wir nun die Tiefen und
Untiefen der Theologie durchaus studiert haben – wenn auch vielleicht nicht auf
Hochschulniveau –, bleibt für uns zum Schluss noch die Gretchenfrage: Wie
halten wir es überhaupt mit der Religion?
Denn ist es nicht so, dass eine solche
Frage für die Humanisten der Relevanz entbehrt: im Focus steht zunächst einmal
der „Mensch“. Was bedeutet es also überhaupt, „Christ“ oder „Buddhist“ zu sein?
Ob „Muslima“ oder „Obstmystiker“? Ob „Hula-Tänzerin“ oder „Atheist“? Ob „Samaritaner“ oder „Zöllner“? … Was
spielen diese „partikularen“ Trennlinien schon für eine Rolle, wenn es in
erster Linie gilt, das „Menschliche“ in uns zu kultivieren?
Allerdings, irgendeine Bewandtnis
wird die dunkle, irrationale oder eben auch religiöse Facette in uns wohl immer
haben. Das abgründige Leiden an der Vergänglichkeit, Furcht vor dem Tod: Die
einen üben sich durch fortgesetzte Meditation im „heiteren Ertragen des Unvermeidlichen“. Die anderen suchen im Anschluss an ein mythologisches System
nach einem Ausblick auf das „Leben nach dem Tod“. Das Dilemma, was uns alle
heimsucht, bleibt: die Vorahnung des Nichts, des endgültigen Verlöschens. Nicht
auslöschbar bleibt für nicht wenige jedoch die Sehnsucht nach Unsterblichkeit,
Hoffnung auf Reinkarnation, Gier nach ewigem Nachruhm oder Wunschbild der
Auferstehung. Und Diskussionen über die Kirchen werden uns, so Gott will, wohl
weiterhin noch beschäftigen.
Also erneut die Gretchenfrage:
Wie halten wir Humanisten es mit der Religion? Gibt es da überhaupt eine
eindeutige Antwort? Und wenn ja, wie mag sie lauten?
Soll sie vielleicht heißen: „Da steh ich nun, ich armer Thor, und binn so klug als wie zuvor“?
Oder einfach: „Hier mus ein jeder nach Seiner Faßon Selich
werden“? Wenn nicht gar: „Ignoramus, ignorabimus“?
Ferner: „Quot homines, tot sententiae“? „Γνῶθι σεαυτόν“? „色即是空“? „תֹ֙הוּ֙ וָבֹ֔הוּ“? … – Ein wahrer Humanist aus
Großbritannien würde vielleicht einfach mit den Schultern zucken und uns den
guten Rat geben:
Always look on
the bright side of life ...
Paul Wakai fragt hier: "Ist der Systematiker Slenczka in Wirklichkeit ein Atheist, der das Christentum systematisch von innen her aushöhlen möchte?"
AntwortenLöschenIch stelle allerdings die Frage, ob der Autor dieses Artikels nicht selber ein Atheist ist, wenn er dermaßen gründlich die Religion zerpflückt.
Außerdem frage ich mich, ob er Slenczka wirklich unterstellen will, tatsächlich aus antijüdischer Motivation zu handeln.
Trotz einiger Fragen, die hier noch ungelöst bleiben: Es hat mir viel Spaß gemacht, diesen langen Text zu lesen. Man lernt ja viel dabei.
Lieber Herr Anonymus,
AntwortenLöschenvielen Dank für Ihren Kommentar!
Sie fragen sich, ob ich "Slenczka wirklich unterstellen will, tatsächlich aus antijüdischer Motivation zu handeln". Wenn Sie mich gefragt hätten, hätte ich Ihnen folgende Antwort gegeben:
Ich will Herrn Slenczka, den ich persönlich nicht einmal kenne, nichts unterstellen. Was ich freilich von seinen Thesen halte, ist unverkennbar in meinem Text nachzulesen: Seine Thesen sind nämlich weder wissenschaftlich fundiert (überholtes Textverständnis, zweifelhaftes Geschichtsverständnis etc.), noch systematisch konsistent, noch werden sie den Geruch des Antisemitismus los, weil sie unkritisch problematische Persönlichkeiten und Konzeptionen aus der Vergangenheit zitieren, die für den gegenwärtigen Diskurs wieder hoffähig gemacht werden sollen – bedenkliche Denkmuster immerhin, die seit jeher als konstitutiver Ansatzpunkt antisemitischer Mythenkonstruktionen fungierten. (Weiterführende Reflexionen hierüber siehe unten im PS-Teil.)
Sie meinen, ich hätte "dermaßen gründlich die Religion zerpflückt." Da wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir bitte irgendeine Stelle in meinem Text nennen würden, wo ich das überhaupt getan haben soll. Vornehmlich geht es ja in meinem Beitrag darum, Formen und Möglichkeiten humaner Entfaltung von spirituellen Bedürfnissen auszuloten im Hinblick auf die Frage: "Wie halten wir Humanisten es mit der Religion?"
Als "Atheisten" würde ich mich nicht bezeichnen, und immerhin sind christliche Traditionen mir als Mitglied der Römisch-Katholischen Kirche in Japan kein "Ausdruck eines fremden religiösen Bewusstseins". So ist es selbstredend auch kein Zufall, dass ich den obigen Aufsatz zu religiös-humanistischen Grundsatzfragen ausgerechnet am Karfreitag (25. März 2016) veröffentlicht habe. Christliche Konfessionen dürfen sich durchaus heimisch in Japan fühlen, einem Lande, in welchem laut herkömmlicher Shintô-Tradition an die 8 Millionen Gottheiten (präsent als Penis-Figur, Plüschtierchen, Regenschirm mit ausgestreckter Zunge etc.) unterwegs sein sollen. Ein zusätzlicher Gott mehr stört da niemanden.
Der Umgang mit spirituellen Traditionen in Japan gibt einem interessierten Beobachter im Übrigen auch wertvolle Hinweise auf die Zustände der vorchristlichen Antike des Abendlandes: Was einem "fremd" aus einer anderen Kultursphäre erscheint, wird durch näheres Betrachten auf einmal als Teil eigener Herkunft erkennbar. So darf ein Humanist das "Bekenntnis" aussprechen, in dessen Focus erst einmal der "Mensch" steht: "Homo sum; humani nil a me alienum esse puto." (Ein Mensch bin ich; nichts Menschliches halte ich für fremd.)
Einen schönen Himmelfahrtstag wünscht Ihnen
P. M. Wakai
PS: Wir sollten bei dieser Reflexion den Blick einmal über den Eierbecherhorizont des theologischen Elfenbeinturms erheben, sind doch in zahlreichen Milieus der Gesellschaft ähnliche Erscheinungsformen im Umgang mit bereits überwunden geglaubten Denkmustern identifizierbar: die einst im Laufe der Nachkriegszeit mit Tabu belegten Gedankenfiguren und ideologischen Konstrukte verlieren ihr Stigma, werden hoffähig und liefern mitunter den Unterbau für ressentimentgeladene Bewegungen, auf die sich beispielsweise auch politische Gruppierungen wie die AfD stützen können. Solcherlei Mechanismen treten derzeit auch im fernen Japan, meinem Heimatland, zutage, wo unser amtierende Premierminister selbst eine Enttabuisierungswelle einst überwunden geglaubter Werte vorantreibt. Nationalchauvinistische Denkweise und militärische Großmachtphantasien werden so bei uns allmählich "en vogue ". Über diese gegenwärtige Entwicklung gibt es natürlich bei uns sowohl "Begeisterte" als auch "Besorgte". Und beide Seiten richten übrigens ihr Augenmerk – aus je unterschiedlicher Motivation – auf die in den unterschiedlichen Milieus Deutschlands stattfindenden Diskurse. Das große Interesse seitens der Japaner an deutschen Begebenheiten hat ja Tradition. Nicht nur die AfD gerät dabei in den Focus. Auch innerkirchliche Debatten gehören dazu.
AntwortenLöschenDer Theologe Notger Slenczka hat es bestimmt gut gemeint: Wir Christen dürfen die Überlieferung der Juden nicht einfach vereinnahmen und sie für unsere Zwecke mißbrauchen. Wir hätten uns nämlich schon längst davor hüten müssen, im gleichen Haus Gottes der Juden uns einzuquartieren. Also gilt es für uns Christen, so Prof. Slenczka, schnellstmöglich das "jüdische Wohnzimmer" zu verlassen, dessen Hälfte einst das Christentum bedenkenlos okkupiert hat.
AntwortenLöschenMag sein, daß systematisch einiges an der Theorie von Professor Slenczka im argen liegt, wie Wakai in seinem Artikel glaubhaft ausführt. Dennoch erscheinen die von ihm kritisch diskutierten Thesen durchaus plausibel: Wir wollen ja alle eigentlich nicht, daß sich "fremde Elemente" in unserer vertrauten Heimstätte ("Wohnzimmer") breitmachen. So wenig der Islam zu uns gehört, so wenig werden wir Christen mit dem Judentum wirklich was anfangen können, wie Prof. Slenczka in seinen wissenschaftlichen Ausführungen bereits nachgewiesen hat. Für eine "klare" Trennungslinie zwischen einander fremden Kulturen ("kontaminationsfreie Zone") sind wir doch alle!
Deswegen wissen wir nämlich auch jene Politiker zu schätzen, die sich für die Reinhaltung der abendländischen Kultur leidenschaftlich einsetzen und folglich alles dafür tun, daß es uns durch Überfremdung eines Tages nicht so ergeht wie den Ureinwohnern Amerikas. Diese wurden von "fremden Europäern" größtenteils fast ausgerottet und der Rest in Reservate verbannt. Früher, in Zeiten von Schleiermacher und Harnack, hat man über solche Themen noch ganz offen und ehrlich in Deutschland reden können. Warum sollten wir nicht auch heute noch darüber (theologisch wie politisch) diskutieren dürfen? Was wir in Deutschland erneut brauchen, ist ein Klima der "Toleranz gegenüber Andersdenkenden"!