In der letzten Folge des Artikels (Teil 1., Kap. I-II: hier) haben wir einiges von der Vielfalt der kulturellen Einflüsse aus dem Abendland erfahren, die seit Jahrtausenden die östlichen Regionen Eurasiens entscheidend inspiriert haben: Wer hätte gedacht, dass es bereits im 16. Jahrhundert im fernen Japan zahlreiche Begeisterte für die Kultur aus dem Westen gegeben hat, die sich sogar in lateinischer Sprache miteinander zu verständigen wussten! Heute (Kap. III-IV) lernen wir ein wenig von der aktuellen Situation in Japan kennen: Gibt es hier nach wie vor Leute, die sich für das Ideal des Humanismus erwärmen können? Die Antwort lautet: Ja, die gibt es, die Schar der Begeisterten, deren Zahl schon seit den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts anwächst – und das nicht zuletzt wegen eines großen Humanisten und mitreißenden poeta Latinus (1928 - 2008), dessen Vermächtnis heute noch fortlebt. (Teil 1: hier)
III.
Öffnung und Wiederauferstehung
Der „Modernisierungskaiser“ Mutsuhito (1852 - 1912; im Amt: 1867 - 1912) |
Diese Kultursprache erwies sich durchaus als wichtig und schwierig genug, um die Schüler an den Eliteschulen auszusieben. Nicht wenige fingen allerdings an, von Herzen diese prestigeträchtige Sprache der Dichter und Denker wertzuschätzen, und es dauerte nicht mehr lange, bis eine deutschsprachige Zeitschrift bei der Kulturelite Vorkriegsjapans (i.e. vor dem 2. WK) etabliert wurde. Man schrieb dort deutsch, und es wurde dort auf Deutsch diskutiert; die Autoren waren generell Japaner, die unentwegt die Sprache Goethes und Schillers zu lieben nicht umhin kamen. (Daneben spielte bei den Akademikern freilich die Beschäftigung mit französischen und englischen Spracherzeugnissen auch eine herausgehobene Rolle.)
・Latinitas in Iaponia – im 20. Jahrhundert
Die moderne japanische Nachkriegsgesellschaft: |
Auch hier findet man sie: Fans der canora Latinitas!! (Anime-Convention in einem jap. Buddha-Tempel) |
・Propugnator humanitatis – 水野 有庸
Ein leidenschaftlicher Deklamator: Professor Mizuno in Aktion! |
・Das wichtige Gebot für Lateiner: Pflege der sonoren
Stimme
In der
guten alten Zeit vermochte ein kultiger Professor durch seinen Unterrichtsstil
immerhin fächerübergreifenden Ruhm bei den Studierenden zu ernten. So auch
Professor Mizuno, über dessen Wirken als Universitätslehrer wie auch als poeta Latinus doctus ich bei einer anderen Gelegenheit näher
berichten werde. Seinen Besuchern trug der Professor gerne seine neuesten
lateinischen Gedichte in sonorer Stimme vor: sei es im Hexameter oder im
elegischen Distichon, häufig auch in lyrischen Versarten wie in den sapphischen
oder alkäischen Strophen, die er sehr liebte. Zu Beginn eines Jahres pflegte er
seinen gesamten Bekanntenkreis mitsamt all seinen ehemaligen Studenten mit
einer lateinischen Neujahrskarte zu beglücken, für die er immer die passenden
Verse selber neu geschmiedet hatte. Hier möchte ich auf die Ausgabe von 1976
kurz eingehen. (Vollständiger
Text & Übersetzung s. u. im Anhang)
・Neujahrsgruß: vierzig Jahre zuvor
Werfen
wir nun einen kurzen Blick vierzig Jahre zurück auf den 1. Januar 1976. (Schon Richard v. Weizsäcker stellte einst in Bonn am 8. Mai 1985
fest: „Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben und
Völkerschicksalen eine große Rolle.“) Auf der Neujahrskarte aus dem Jahr 2729 ab urbe
condita lesen wir ein 22zeiliges Gedicht, aus welchem ich hier
zunächst den Anfang zitieren möchte:
"NEGAWAKUBA....
"
(Tatuzii poetae carmen)
Seras, pirorum siquid est decens, precor
meo sepulcro proximum.
hae flore uere candicant, hae dulcia
ferunt sat autumno pira.
(…)
Freie Übersetzung des obigen
Textes: „Wenn ich bitten darf …“ (ein Gedicht von Tatsuji);
Mögest du, darf ich bitten,
ein paar Birnbäume neben mein Grab pflanzen. Strahlend im heiteren Weiß
erblühen sie im Frühling, sattsam und üppig tragen sie süße Früchte im Herbst. (Tatuzii poetae carmen)
Seras, pirorum siquid est decens, precor
meo sepulcro proximum.
hae flore uere candicant, hae dulcia
ferunt sat autumno pira.
(…)
Eine lateinische Neujahrskarte aus Japan: anno MMDCCXXIX. ab urbe condita (1976) |
・Zum ewigen Frieden: das Gebot des Austausches der
Kulturen
"Vorher" (1941) vs. "Nachher" (1983): |
Kaiser Hirohito (1901 - 1989; i.A.: 1926 - 1989) in Krieg (links) und Frieden (rechts, mit Kaisergemahlin) |
・Mehrere Inspirationsquellen – West und Ost: deutsch,
französisch, klassisch-chinesisch, alt-japanisch …
Birnbaumblüten: Symbol der Reinheit und der Würde |
Gleichzeitig greift der Text mit diesem Bild auch auf das Metapher-Arsenal der chinesischen Klassiker zurück: Die kraftvoll weiße Blüte des Birnbaums fungierte als Symbol der Geradlinigkeit, sittlicher Reinheit und der würdevollen Geisteshaltung. Diese positive Konnotation hebt wiederum die lateinische Version durch die explizierende Wortwahl hervor: Die Sprache Latiums kennt ja die feine, klare Differenzierung von albus, „matt-weiß“ (auch: blass, bleich u.v.m.), und candidus, „glänzend-weiß“ (auch: frohgemut, treuherzig u.v.m.); hier kommt die Verbform der kraftvollen Variante zum Zuge (candicare). Das Motiv der Strahlkraft, der Würde und der Geradlinigkeit tritt mit der lat. Wortwahl explizit in Erscheinung. (Vergessen wir nicht, dass das entsprechende Substantiv candidatus jemanden verkörpert, der sprichwörtlich eine „weiße Weste“ bzw. eine entsprechende toga anhat und somit als Amtsbewerber stolz seine moralische Integrität demonstrieren möchte.) Die poetische Wendung flore candicant (durch die Blüte glänzen sie stolz in prachtvollem Weiß) finden wir in Apuleius' Metamorphosen (5,22,5).
Alfred de Musset (1810 - 1857) |
・Sterblichkeit des Menschen: Prägeform jeder
menschlichen Kultur
„Kult der Unsterblichkeit“ |
Aureus (Goldmünze) mit Aeternitas-Motiv – in Metall geronnene Idee des Römertums |
Das unbändige Verlangen nach Unsterblichkeit durch eigenes Werk, welches die Zeitalter überdauern soll, einhergehend mit der zuversichtsvollen Gewissheit des ewigen Nachruhms: ein wahrhaft tröstlicher Gedanke für die antiken Römer! Nota bene: Das Postulat der praktischen Unsterblichkeit der eigenen Person spielte immerhin damals eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Christentums und prägt die sog. westliche Kultur bis heute.
・Kulturschock durch Latein?
Wer sich
mit solch typisch römischen Versen einmal vertraut gemacht hat, müssten
eigentlich die lateinischen Zeilen 13 – 15 der hier besprochenen „japanischen“
Dichtung ziemlich eigenartig vorkommen:
inane carmen, ut fluentis nubili
color, peribit in breui.
umbra sed aeua transigentes arbores
ubi sepulcrum texerint,
(…)
color, peribit in breui.
umbra sed aeua transigentes arbores
ubi sepulcrum texerint,
(…)
Birnbaumallee |
... strahlend im heiteren Weiß erblühen sie immerfort ... |
Was für ein Kontrast zu den üblichen lateinischen Versen! Erkennen wir hier ein japantypisches Motiv, durchwirkt von der Ästhetik der heiteren Hinnahme des Vergänglichen, welchem die übermächtige Dauerhaftigkeit des Weltkörpers entgegengestellt wird? In der Natur das zu erkennen, was bedeutend größer und dauerhafter ist als der sterbliche Betrachter selbst: Ist das nicht auch ein erhabener, schöner, trostvoller Gedanke? Diese Art des Umgangs mit der Beschränktheit der eigenen Existenz ist freilich in der japanischen Kultur dermaßen gang und gäbe, dass sie hier in dem Inselland als selbstverständlich hingenommen wird.
・Aufgabe
des Humanismus von heute
Dass dem das so nicht ist, wird
selbst einem japanischen Leser durch die Übertragung in eine gänzlich fremde
Sprache, in einem anderen Kulturraum angesiedelt, auf einmal klar: Das
Vertraute, das sonst einfach Unhinterfragte klingt überraschend fremd, merkwürdig
andersartig, wenn nicht gar vollends deplaciert. Und gerade in solchen
Entdeckungsprozessen liegt laut Prof. Mizuno auch der Sinn und Zweck des
Humanismus: Wir lernen das Eigene, das vermeintlich Selbstverständliche mit dem
Augen der Fremden zu sehen und hinterfragen es. Wir lernen mit der Tatsache
umzugehen, dass auch gänzlich andere – in der eigenen Traditionswelt eher
marginalisierte – Impulse eines Menschen irgendwo in der Fremde zum
tonangebenden Leitmotiv einer Gesellschaft avancieren können. Wir lernen dabei,
die fremd erscheinenden Elemente – sowohl aus der Gegenwart als auch aus der
Vergangenheit anderer und unserer Kulturen – mit in den eigenen persönlichen
Horizont zu integrieren, auf dass uns eine größere Vielfalt an Ideen und
Erbmassen unterschiedlicher Überlieferungen zu Gebote steht.
IV. Zum Schluss
„East is East and West is West, and never the twain shall meet“
– dieser Ansicht von Rudyard Kipling, als hätten der Westen und der Osten stets
abgetrennt voneinander existiert, haben wir nun mit einer Fülle von
gegenläufigen Beispielen und Argumenten entgegnet. Wohl gab es zwischen West
und Ost mannigfaltige kulturelle Beziehungen – auf der sogenannten
„Seidenstraße“, auf dem Seeweg um Indien und auf sonstigen Pfaden terra
marique. Wohl kam es wiederkehrend zu diversen Schwierigkeiten, die jenen
fruchtbaren Austausch wirksam zu blockieren vermochten.
Wir
sollten eigentlich in einer glücklichen Zeit leben, wo wir die Möglichkeit
genießen dürften, all die kulturellen Erben unterschiedlichster Herkunft in
unseren Lebenshorizont einfließen zu lassen. Eigentlich. Aber auch heute noch
kommt es gerade in der interkulturellen Begegnung zu mancherlei
Schwierigkeiten, ausgelöst von der Barbarei, welche dem Menschengeschlecht („genus humanum“) zu eigen zu sein scheint.
・Neujahrsgruß für West und Ost
Der
moderne Humanismus kann nur in stetem Bemühen fortbestehen, so Prof. Mizuno, auf
zivilisiertem Wege zu ermöglichen, dass jedem Menschen die Vielfalt der
Kulturen verfügbar wird. So gesehen, hat diese geistige Bewegung allerdings
noch einen sehr langen, beschwerlichen Weg vor sich. Immerhin: Noch stehen wir
am Anfang 2016, wo wir die Chance haben, dafür zu sorgen, dass aus diesem Jahr
ein friedvoller, humaner, fortschrittlicher Abschnitt der Menschheitsgeschichte
wird. Lasst uns alle im Sinne des lebendigen Humanismus, der uns kraftvoll zu
inspirieren vermag, ein frohes, schönes, gedeihliches Jahr wünschen – und dabei
dessen eingedenk sein, was einst Mahatma Gandhi (1869 - 1948), ehemals Bürger
des British Empire, geantwortet haben soll auf die Frage „Are you
still a Hindu?“:
„Yes, I am. I am also a
Muslim, a Christian, a Buddhist and a Jew.”
(Fortsetzung folgt.)
Anhang
"NEGAWAKUBA.... "(Tatuzii poetae carmen)
Seras, pirorum siquid est decens*, precor
meo sepulcro proximum.
hae flore uere candicant, hae dulcia
ferunt sat autumno pira.
iacentis inter hasce quae miserrima
sit acta uita, ne roga.
diu Camena carmen ex mortalibus
hanc me docet per arborem.
at hoc oportet alteri cantarier?
noli negantem spernere,
profunde quidquid artis est tuae domi:
tenere ficta quid ualet?
inane carmen, ut fluentis nubili
color, peribit in breui.
umbra sed aeua transigentes arbores
ubi sepulcrum texerint,
uirum** quotannis plus equos huc iunxerit,
uiator hic requieuerit:
futura laeta sic imago me iuuat,
quieta mens ualde mihi.
seras, pirorum siquid est decens, precor
meo sepulcro proximum.
(INTERPRETE ARITUNEO MIZUNO)
KAL. IAN. A.V.C. MMDCCXXIX
Anmerkungen:
* pirorum siquid est decens: „sollte es von den Birnen etwas geben, was sich ziemt“ bzw. „Birnbäume in schicklicher Zahl, sofern man’s nicht übertreibt“
** uirum quotannis plus: uirum (gen.part.pl.) = uirorum + plus; „von Jahr zu Jahr immer mehr Leute“
„Wenn ich bitten darf …“
三好達治
三好達治
Mögest du, darf ich bitten, ein paar Birnbäume neben mein Grab pflanzen.
Strahlend im heiteren Weiß erblühen sie im Frühling, sattsam und üppig tragen sie süße Früchte im Herbst.
Frage nicht, welch klägliches Leben ihm zuteil ward, der da zwischen diesen Bäumen liegt.
Von jeher kündet die Muse mir durch solch einen Baum Liedgesang aus todgeweihten Sphären.
Doch: Ziemt es sich etwa, dies' Lied einem anderen vorzusingen? So verschmähe mich nicht, wenn es mir zu schweigen beliebt.
Mögen dir allerlei Geschick und Kunstsinn noch so tief eingewurzelt sein: was bringt's, an Erdichtungen festzuklammern?
Eitles Lied wird, wie fließenden Gewölkes Farbenglanz, im Nu vergehen.
Werden die Bäume aber Äonen überdauernd dereinst das Grabmal mit Schatten überziehen,
jahrein mehr Leute aus der Ferne hier Pferde binden und Rast finden:
solch frohgemuter Ausblick mich entzückt so sehr, ganz von stillvergnügter Ruhe beseelt mein Gemüt nun ist.
Mögest du, ich bitte darum, ein paar Birnbäume neben mein Grab pflanzen.
Strahlend im heiteren Weiß erblühen sie im Frühling, sattsam und üppig tragen sie süße Früchte im Herbst.
Frage nicht, welch klägliches Leben ihm zuteil ward, der da zwischen diesen Bäumen liegt.
Von jeher kündet die Muse mir durch solch einen Baum Liedgesang aus todgeweihten Sphären.
Doch: Ziemt es sich etwa, dies' Lied einem anderen vorzusingen? So verschmähe mich nicht, wenn es mir zu schweigen beliebt.
Mögen dir allerlei Geschick und Kunstsinn noch so tief eingewurzelt sein: was bringt's, an Erdichtungen festzuklammern?
Eitles Lied wird, wie fließenden Gewölkes Farbenglanz, im Nu vergehen.
Werden die Bäume aber Äonen überdauernd dereinst das Grabmal mit Schatten überziehen,
jahrein mehr Leute aus der Ferne hier Pferde binden und Rast finden:
solch frohgemuter Ausblick mich entzückt so sehr, ganz von stillvergnügter Ruhe beseelt mein Gemüt nun ist.
Mögest du, ich bitte darum, ein paar Birnbäume neben mein Grab pflanzen.
Ein sehr schöner Artikel! Ihren Ansatz, die Idee des Humanismus mit dem Aspekt der grenzübergreifenden Kulturbegegnung zu verknüpfen, finde ich sehr interessant.
AntwortenLöschenÜbrigens würde es mich sehr interessieren, ob Sie auch eine bestimmte Meinung zu den aktuellen Integrationsproblemen (Flüchtlinge, Migranten) in Deutschland haben.
Haben Sie zu diesem Thema das vielbesprochene Buch von Seyran Ateş "Der Multikulti-Irrtum" gelesen?
Es scheint also in manchen Fällen durchaus auch unüberbrückbare Hürden im Verständigungsprozess zwischen den Kulturen zu geben. Vielleicht helfen statt "Multikulti-Vision" andere Theorie-Modelle wie "Interkulturalität" oder "Transkulturalität". Ist ein Dialog bzw. Austausch zwischen den verschiedenen Kulturkreisen wirklich möglich?
Eine Inkommensurabilität der Kulturen findet sich übrigens auch in der Hermeneutik Gadamers: In ihr ist eine Verständigung nur zwischen Kulturen gleicher Herkunftsgeschichte möglich (beispielsweise zwischen einem Bayern und einem Thüringer), nicht aber darüber hinaus (z. B. ein Deutscher und ein Chinese).
Einen sehr lesenswerten Artikel zu diesem Themenkomplex habe ich neulich hier gefunden:
http://ef-magazin.de/2014/02/26/5011-schweiz-die-multikulti-luege
Ich werde Ihre Artikelserie weiter verfolgen. Vielleicht gehen Sie in Zukunft auf meine Anregung ein und schreiben etwas über die aktuelle Lage in Deutschland einen Artikel!
Sehr geehrter Gast,
Löschenhaben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre Kommentierung meines Beitrages!
Es ist wohl zu viel der Ehre, es als „meinen“ Ansatz zu bezeichnen, „die Idee des Humanismus mit dem Aspekt der grenzübergreifenden Kulturbegegnung zu verknüpfen“. Denn vielmehr „ist“ Humanismus nichts anderes als ein couragiertes Unterfangen, verschiedene Kulturen zusammenzuführen und unseren eigenen kulturellen Horizont stets zu erweitern.
Darf ich hier als ein klassisches Beispiel des humanistischen Bildungsengagements den Lateinunterricht erwähnen:
Welche/r (ehem.) LateinschülerIn erinnert sich nicht daran, wie sie/er beispielsweise im Lernvokabular über Stichworte wie „sacer, -ra, rum: 1) heilig 2) verflucht“ oder auch „religio, -nis, f.: nicht (!) das gleiche wie ‚Religion’“ zunächst einmal gestolpert ist? Auch manche für das Zusammenleben der Menschen in der römischen Welt zentrale Begriffe wie „gratia“, „pietas“ oder „fides“ können bei der Sinnerfassung knifflig werden. Und dann kommen auch noch die nach anderen Ordnungsvorstellungen konstruierten Satzperioden …
Der Lateinunterricht mag für jeden von uns so lange mit Kopfzerbrechen verbunden sein, bis uns dann eines klar wird: um die antiken Texte ansatzweise zu verstehen, müssen wir uns mit dem kulturellen Horizont der antiken Menschen auseinandersetzen – was unweigerlich auch dazu führt, unseren eigenen Horizont zu hinterfragen, zu relativieren und zu erweitern.
In besonderem Maße gilt dieser hochspannende „hermeneutische Zirkel“ des Lateinunterrichts natürlich für einen japanischen Lateinschüler, wie ich einer war.
Übrigens fiel es mir dann später – durch den Lateinunterricht sensibilisiert – umso leichter, die feinen Facetten der dt. Sprache sowie der dt. Mentalitäten und somit in mancher Hinsicht auch den deutschen kulturellen Horizont innerlich zu erfassen, den ich übrigens mit dem meines japanischen Herkunftslandes durchaus nicht als „inkommensurabel“ empfinde. Aus meiner Lebenserfahrung heraus kann ich Ihnen also gerne versichern: Multikulturelle Kompetenz ist lernbar!
Zu dem von Ihnen beigefügten Link: Interessant zu erfahren, dass dort seit jüngerer Zeit auch der Genetik-Experte und „Bestsellerautor“ (BILD) Thilo Sarrazin („Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen“ [08. 2010]) veröffentlichen darf. Kritische Erwähnung findet auf jener Seite die Aussage seines Genossen Ralf Stegner: „Geistige Abschottung kann zur Verblödung führen.“
Gerade angesichts der aktuellen Situation in meinem Heimatland (bislang leider noch kein Einwanderungsland), das ratenweise in nationalistischem Wahn zu ersticken droht, bin ich doch sehr geneigt, diese Aussage noch schärfer zu formulieren: „Geistige Abschottung führt zu Verblödung!“