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ehemals Württembergischer Verein zur Förderung der humanistischen Bildung e.V.

Montag, 16. November 2015

„Wer nicht redet, wird nicht gehört” – Humanistische Spaziergänge II

„Auch im fernen Osten war Helmut Schmidt – neben Richard von Weizsäcker – allseits angesehen und stets eine gefragte Person“, stellt unser Gast-Autor aus Japan fest und klärt uns darüber auf, warum der endgültige Abschied des prominenten Alt-Kanzlers, der selbst unter schwierigsten Umständen einen kühlen Kopf zu bewahren verstand, nicht nur eine „deutsche“ Angelegenheit ist. Gar überaus viele Fans hat nämlich der prominente Hamburger auch im fernen Japan gehabt – gerade unter Freunden des abendländischen Humanismus.


Vorbemerkung
„Ganz Deutschland trauert über den Abgang von Helmut Schmidt“, stand vor einigen Tagen noch in einigen Meldungen zu lesen. Ganz Deutschland? Nein, mitnichten: Jeder Versuch, das anteilnehmende Angedenken lediglich auf eine nationale Ebene zu reduzieren, wird wohl in keiner Weise dem Format des jüngst Verstorbenen gerecht. Soweit die große Welle der Anteilnahme auch in Japan und anderen Ländern bezeugt hat
, war Helmut Schmidt nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland „zu Hause“.

„Deutsche Weltbürger“: Schmidt & von Weizsäcker
Freilich: Woher rührt nun überhaupt diese weltweit zu beobachtende Sympathie für prominente deutsche Persönlichkeiten? Welches Gewicht haben die Worte von Schmidt oder auch Weizsäcker gehabt – selbst in Gefilden außerhalb der

Bundesrepublik: wie beispielsweise in Japan?

Der humanistische Diskurs
Gerade unter den Freunden des Humanismus in Japan[1] wird nun eingehend darüber reflektiert, welche Bedeutung o.g. Personen für sie und auch für die allgemeine japanische Öffentlichkeit hatten – und sicherlich auf die Dauer noch haben werden.

Schon gleichsam zum Auftakt des Jahres, anlässlich des Ablebens des Altbundespräsidenten Richard Freiherr von Weizsäcker (= mal ganz nebenbei: Träger des Humanismuspreises des DAV[2] 1998) wurde uns allen nämlich unverkennbar, dass die Welt nach und nach um bedeutsame Persönlichkeiten ärmer zu werden droht. Wir erinnerten uns daran, dass seine Rede am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa auch bei uns in Japan ein „großer Hit“ wurde. Damals gab es dort die Rede des Bundespräsidenten sogar in Form von Audiokassetten käuflich zu erwerben, die ich mir persönlich mit jugendlicher Begeisterung zugelegt habe. Dreißig Jahre später, auch in der aktuellen Tagespolitik Japans wird über die sprichwörtlich gewordene „Weizsäcker-Rede“ rege diskutiert mit Blick auf die Fragestellung: Was können und sollen wir aus der Geschichte für die Zukunft lernen?

Seinerzeit in den 80er Jahren prägte auch eine andere Figur aus der Bundesrepublik den öffentlichen Diskurs Japans: Regelmäßig zu Jahresbeginn trat Helmut Schmidt im öffentlichen Sende-Format auf, dessen Titelgebung zu seiner Person nicht noch passender hätte ausfallen können: „Helmut Schmidt erklärt uns die Welt“! Nicht nur über die politische Lage in Europa oder in Nordamerika klärte der Altkanzler das staunende jap. Publikum auf. Auch über die Verhältnisse in den asiatischen Regionen gab es aus des Hanseaten Munde durchaus scharfsinnige Analysen zu hören. Ohne falsche Scheu erklangen seine geschliffenen Worte, ehrlich, klar und ungezwungen – die praktische Devise des Welterklärers: „Wer nicht redet, wird nicht gehört.“

Umfassende Weitsicht – prudentia
Das fernöstliche Publikum war schlichtweg erstaunt darüber, wie gut Schmidt sich in der Geschichte der Chinesen, Koreaner sowie Japaner auskannte; hatte der Weltökonom doch schon seit seiner Studienzeit sich intensiv mit auswärtigen Ereignissen beschäftigt (Thema seiner Diplomschrift: „Die japanische Währungsreform im Vergleich mit der deutschen“). So vermochten seine anschaulichen Fernseh-Analysen manch historisch motivierte Stolpersteine für die langfristige Zukunft der friedlichen Koexistenz dieser Nationen in aller Klarheit aufzuzeigen. Einige seiner damaligen Warnungen sind leider heutzutage aktueller denn je geworden, wo es zwischen den genannten Ländern im fernen Osten aufgrund immer noch nicht überwundener Wunden aus der Vergangenheit und namentlich in Territorialstreitigkeiten heftig knirscht, was nun zum Aufkommen nationalistischer Strömungen in den entsprechenden Staaten führt und somit das öffentliche Klima durchgreifend vergiftet wie auch die Kommunikation zwischen den Nationen erheblich erschwert.

Geist und Macht: eine eigentümliche Gegnerschaft?
Nicht nur, dass sein umfassendes Interesse an der Geschichte anderer Völker und Kulturen Schmidt in die Lage versetzte, ein wachsames Gespür für die historisch motivierten Befindlichkeiten anderer Nationen zu kultivieren. Als Kulturmensch[3] wusste Kanzler Schmidt ja auch um die Wirkungskraft der Kunst hinsichtlich der Repräsentation der Macht: Die monumentale Bronzeplastik Large Two Forms des englischen Bildhauers Henry Moore – zwei ineinander verschlungene Elemente, die sich gegenseitig anreizen und ergänzen – jene beziehungsreiche Skulptur zierte auf Veranlassung von Helmut Schmidt („ein Symbol für menschliche Verbundenheit“) seit 1979 den Rasen vor dem Kanzleramt und avancierte somit zum international gewürdigten Wahrzeichen der Bonner Republik. Wie das Weiße Haus der USA oder der Tian'anmen-Platz der VR China, so hat auch die Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Schmidt endlich ein augenfälliges „Gesicht“ für die politische Berichterstattung bekommen, das sich allerdings im Vergleich zu Wahrzeichen anderer Staaten sinnlich formschöner, intellektuell differenzierter und schlichtweg sympathischer ausnahm. Von seiner Ehefrau Loki ließ sich der Bundeskanzler zuweilen mit den neuesten Errungenschaften aus der Literatur-Szene versorgen, so dass er geistig-kulturell immerzu auf der Höhe der Zeit blieb. Zwar stand er zeitgenössischen linksintellektuellen Strömungen zum Teil skeptisch gegenüber, dennoch zeigte er sich durchaus auch offen für einen Austausch mit ihnen, weshalb auch ein kritischer Geist wie der „Konkret“-Autor und Kabarettist Jochen Steffen bei ihm zu Hause als Gast willkommen war. Die Diskussionen, die Kanzler Schmidt während des sog. Deutschen Herbstes 1977 mit Siegfried Lenz, Siegfried Unseld, Max Frisch und Heinrich Böll führte, haben wohl auch mit dazu beigetragen, dass mancherlei Sympathien für die RAF, die man damals teilweise im linksintellektuellen Milieu noch beobachten konnte, entscheidend eingedämmt wurden.

Kosmopolitisch denken, kooperativ lenken
Sein kulturell-historisches Interesse vermochte Schmidt – bei gleichzeitiger kritischer Distanz zu fremden und eigenen kulturellen Traditionen („Es gibt nichts Unwichtigeres als Theologie“) – auch im Bereich der Außenpolitik mit realpoli-tischen Erfordernissen zu verknüpfen, der sich von den Experten bisweilen über die Geschichte und Kulturen anderer Nationen (beispielsweise Russland, China, Ägypten, Japan, der Türkei etc.) sowie über verschiedene Religionen (e.g. Islam) oder philosophische Strömungen (e.g. Konfuzianismus) gerne unterrichten ließ. Jeglicher Ausformung des Kulturchauvinismus abhold, sei es ihm daran gelegen gewesen, dass die staatlichen Vertreter beispielsweise aus den muslimischen oder auch konfuzianischen Kulturen ihn als ihren „guten Freund“ ansahen. So lautete seine politische Devise, eine nationalistische Verengung des Blickfeldes niemals zuzulassen, gerade (auch) dann, wenn es darum gehen sollte, die Interessen des eigenen Landes gegenüber anderen Staaten zu vertreten. In persönlichen Gesprächen mit Staatschefs soll sich Schmidt manchmal selbst in die Rolle des jeweiligen Gesprächspartners versetzt haben, um freimütig darzulegen, was er anstelle seiner tun würde – frei nach dem Motto: „Helmut Schmidt erklärt uns allen die Welt“. Dem US-Präsidenten Jimmy Carter war allerdings eine solch unverblümte Haltung des Hanseaten wohl nicht ganz recht ...[4] Immerhin schien es Schmidt um ein faires, gleichberechtigtes Miteinander zwischen den Völkern zu gehen, weshalb er – der die außenpolitischen Spielräume der Bundesrepublik in den Jahren seiner Regierungstätigkeit beträchtlich erweitert hat – eine etwaige „Führungsrolle“ der Bundesrepublik als politische „Großmacht“ seinerzeit strikt ablehnte, wie wir es aus zahlreichen Interviews im Fernsehen und in den Printmedien, namentlich in der Asahi-Zeitung, entnehmen konnten.

Der weltbürgerliche Blick
Seinem historischen Weitblick hatten wir Japaner damals in besonderem Maße die integrative Weichenstellung zu verdanken, als der Kanzler Schmidt gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Giscard d‘Estaing 1975 den Weltwirtschaftsgipfel (zunächst G6[5]) ins Leben rief. In jenen Ölschock-geplagten Depressionsjahren der 70er war es bekanntlich dem deutschen Kanzler sehr daran gelegen, eine wirtschaftspolitische Blockbildung oder gar protektionistische Tendenzen der Industriestaaten zu unterbinden. Gerade als erste nicht-westliche Wirtschaftsmacht hat allerdings Japan zu seinen Ungunsten in jener ökonomisch schwierigen Situation seinerzeit mit einer feindseligen Blockbildung seitens der westlichen Industriestaaten rechnen müssen. Schmidt, dem die unheilvolle Vorgeschichte zum zweiten Weltkrieg deutlich vor Augen stand, sah durchaus die Gefahren einer solchen kontraproduktiven Ausgrenzungspolitik und setzte sich energisch dafür ein, Japan – statt es zu isolieren – als verantwortlichen Partner des Westens fest in einem gemeinschaftlichen, politischen Rahmen zu verankern, in welchem ein kooperativer wirtschaftspolitischer Diskurs zwischen den Staaten ermöglicht werden soll. Die Lehren aus der Geschichte gelte es in der Realpolitik produktiv umzusetzen, erklärte er anderen die Welt. Nach seiner aktiven Karriere hat sich Schmidt in der westlichen Öffentlichkeit auch noch dafür eingesetzt, in der chinesischen Wachstumsdynamik nicht die zu dämonisierende „gelbe Gefahr“ zu sehen – stattdessen plädierte er unermüdlich für einen aufrichtigen, fairen Dialog: „Die Welt mit den Augen der anderen zu betrachten, mit den Augen der Mitspieler und Gegenspieler – und unter dem Aspekt ihrer Interessen –, ist eine Kunst, die man nur im Gespräch mit Menschen anderer Kulturkreise erlernen kann.“

Contenance bewahren – constantia
Diese offene Haltung, tiefergehendes Verständnis für die Belange anderer entgegenzubringen, ging allerdings für den Welterklärer Schmidt durchaus mit der Maxime einher, die eigene Standhaftigkeit in prinzipiellen Fragen niemals kritiklos aufzugeben. Dieser Contenance wurden wir ja gerade im Zusammenhang mit dem sog. Deutschen Herbst deutlich gewahr, als es damals von der Opposi-tion zu hören gab, dass man das „Grundgesetz vorübergehend aussetzen“ könne, was im Klartext bedeutete, repressivere Maßnahmen staatlicherseits für den Notfall in Kauf zu nehmen, Todesstrafe inklusive.[6] In der Frage der inneren Sicherheit gab es für Schmidt auch mit Blick auf die deutsche Geschichte freilich eine klare Grenze der Belastbarkeit, weshalb er wiederholt betonte, auf gar keinen Fall das Grundgesetz überschreiten zu wollen. So unbestritten war seine damalige Haltung allerdings nicht. Manche Umfragen aus jener Zeit belegen, dass in der Bevölkerung der Bundesrepublik durchaus Sympathien für drakonische Strafen gegen Terroristen vorhanden waren. Zumal es im damaligen Europa keinerlei Konsens über die einheitliche Wertung einer solchen Strafdisziplin gab: In Frankreich war die Todesstrafe damals noch geltendes Recht, und in Großbritannien planten die Konservativen eine Wiedereinführung einer solchen Maßnahme im Sinne einer effektiveren Terrorismusbekämpfung. Schmidts konsequentes Durchhalten verhinderte allerdings ein rechtspopulistisches Abdriften des allgemeinen Diskurses. Und nicht nur das: Sein Kurs bewahrte auch die verfassungsgemäßen Institutionen der Bundesrepublik wie das Amt des Bundespräsidenten oder das Bundesverfassungsgericht vor einer möglichen Lädierung, die damals im erhitzten Meinungsklima wohl eingetreten wäre, hätten die entsprechenden Organe, mitten in den Strudel der tagespolitischen Auseinandersetzung hineingerissen, gegen eine mögliche Mehrheit der Bevölkerung über irgendwelche verfassungsinkonformen, aber immerhin nicht ganz unpopulären Gesetzesvorhaben zu befinden gehabt. Eine solch rechtspolitisch problematische Wende wäre zumindest auch europaweit nicht ohne erhebliche Auswirkung geblieben.


Stimmung, Schwung, Spannung:  gesellschaftliche Dynamik
Aber es kam anders: Nicht nur, dass die bundesdeutschen Organe weiterhin über Jahre ihr Ansehen in der Bevölkerung zu erhalten vermochten. Vielmehr noch: Statt eines rechtspopulistischen Rückfalls kam es zu einem nachhaltigen Schritt nach vorne im Sinne des Humanismus, indem europaweit die antireaktionär-progressiven Impulse der Hinrichtungsgegner größeren Auftrieb bekamen – so auch in Frankreich, für dessen Bevölkerung gleichsam der Nachweis in der benachbarten Bundesrepublik erbracht wurde, dass die rechtspolitische Vorstellung der Justizmord-Kritiker auch unter erschwerten Bedingungen aufrechtzuerhalten sei, was dazu führte, dass 1981 unter François Mitterrand die entsprechende Sanktion endgültig abgeschafft wurde. Dieses Ereignis trug zur Stabilisierung des Lagers der Todesstrafengegner auch in anderen Ländern bei. In Großbritannien scheiterte Margaret Thatcher 1983 zu ihrer großen Überraschung bei der Debatte über die Frage, ob nicht in Ausnahmefällen, namentlich zur Bekämpfung des Terrorismus, die Wiedereinführung  der Todesstrafe legitim sein könne. Heutzutage gehört die damals von Schmidt mit verteidigte Rechtsauffassung zum festen, auf Dauer angelegten europäischen Standard[7] („idée européenne“; cfr. EU-Beitrittskriterium) . Scheinbar eine Selbstverständlichkeit also, über die fast keiner mehr in Deutschland bzw. Europa nachdenkt – tatsächlich eine Folge der standhaften Politik der maiorum nostrorum.  Mittlerweile gibt es auch eine Reihe von Staaten, welche die entsprechende Strafe entweder abgeschafft oder zumindest ausgesetzt haben, um von der Europäischen Union privilegiert behandelt zu werden (cfr. Georgien, Ukraine, Türkei). Nur ist es für uns immer noch lange keine Selbstverständlichkeit, da das Thema in vielen anderen Ländern nach wie vor aktuell zu bleiben scheint: wie in China, den USA oder auch in meinem Heimatland Japan (, wo es früher – im Gegensatz zu heute – auch nennenswerte Bestrebungen zur endgültigen Abschaffung der Todesstrafe mal gab,) – ein abstoßender Umstand, der uns derzeit allesamt zur Stellungnahme zwingt. Wahrlich gibt es selbst heute noch Gründe genug, Contenance zu bewahren.

Geistige Unabhängigkeit – humanitas
Es ist wohl so, dass wir in der Person des Welterklärers Helmut Schmidt mehrfach den Wert langfristig angelegten Denkens verkörpert gesehen haben – die Notwendigkeit also, den Blick etwa von der reflexhaften tagespolitischen Fixiertheit vollends zu lösen, um die Dinge in größeren Zusammenhängen ersehen zu können. Vielleicht ist dies genau der Punkt, der die Freunde des Humanismus auch bei uns wesentlich inspiriert hat. Dass Helmut Schmidt jedenfalls nicht nur vom politischen Tagesgeschäft unabhängig zu sein vermochte, sondern darüber hinaus auch noch mit viel interessanteren Facetten des Lebens sich anfreunden konnte, davon nahmen wir in Japan Kenntnis, als wir ihn in den 80ern zu unserer Überraschung in der Rolle eines fachkundigen Pianisten kennenlernen durften. Fürwahr: Allem Anschein nach verfügte er also über einen viel weiteren Horizont als irgendein Durchschnittspolitiker. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war es die japanische Fernsehberichterstattung von seinem Auftritt bei Johann Sebastian Bachs Konzert für vier Claviere und Streicher in a-moll, BWV 1065, die mir eine bleibende Erinnerung beschert hat: So streng, gravitätisch und nahezu drahtig, wie Schmidt den großen Bach interpretiert hat; durchaus einem Hanseaten gemäß, der jeden überladenen Prunk ablehnt und stattdessen die schlichte, protestantische Nüchternheit bevorzugt – ein kühler Kopf, der seinen Kurs hält – selbst in der sinnlich-leidenschaftlichen Welt der Musen! Ja, es gibt Dinge, die viel größer, viel interessanter und viel schöner sind als die Niederungen der Tagespolitik und sonstiger schnöder Betätigungen auf Erden. Es wäre wahrlich zu schade, wenn wir es also unterlassen würden, angesichts der mannigfachen Schönheit des Lebens unseren geistigen Horizont stets zu erweitern: ein wahrhaft humanistischer Grundgedanke, den Helmut Schmidt in seinem Leben zu verkörpern schien!

Zu guter Letzt – conclusio humanistarum:
Zahlreiche Anregungen seitens der Freunde des Humanismus in Japan, die sich von jenem Hamburger zeitlebens inspiriert gefühlt haben, erreichten mich in den letzten Tagen – oftmals verbunden mit der Ermutigung, für eine deutsche Humanisten-Seite in Angedenken an Helmut Schmidt einen ehrenden Beitrag zu verfassen. In einer der „Ermutigungsmails“ fand sich ein sinnreicher Hinweis auf die Daphnis-Ekloge (5) von Vergil, in welcher einer verstorbenen Person durch neue Lieder ehrend gedacht wird. So sollen Kultur und Humanität durch feierliches Gedenken an den Verschiedenen gestiftet und fortgeführt werden. Ein anderes Zitat (Ennius-Epitaph) schickte mir neulich ein japanischer Arzt, mit dem ich seit Jahren freundschaftlich verbunden bin – auch dies eine Zuschrift in Andenken an Helmut Schmidt. Ja, wir werden ihn alle wohl in Zukunft sehr vermissen, keineswegs ihn aber vergessen. Wie passend erschallt doch in unseren Ohren nun jenes Zitat von Ennius:  
 


NEMO ME LACRIMIS DECORET NEC FVNERA FLETV
FAXIT CVR VOLITO VIVOS PER ORA VIRVM
(Niemand soll mich mit Tränen adeln noch weinend das Begräbnis
feiern. Warum? Fliege ich doch fortan lebend in den Mündern der Menschen umher.)

Post scriptum
Eine Episode aus Lebzeiten jenes Hanseaten, die von bleibender Erinnerung für mich sein wird: Eines Tages hatte Helmut Schmidt in Tokyo einen Termin mit einigen als Redakteure einer Schülerzeitung tätigen Teenagern. Die Frage an ihn: „Herr Schmidt, was erwarten Sie von der heutigen Jugend?“ – eine Frage übrigens, die sonst jeden Politiker, Lehrer oder überhaupt jeden Erwachsenen – damals wie heute – zu weitschweifigen Ausführungen über die gesellschaftliche Verantwortung der jungen Generation mit Blick auf ihre vermeintliche Zukunftsfähigkeit und sonstigen Gemeinplätzen veranlasst hätte. Die lapidare Antwort des Hamburgers: „Gar nichts.“ Es war das beste Interview, das ich je in meinem Leben miterleben durfte.

Anmerkung:
1        Zu den „FreundInnen des Humanismus“ in Japan werde ich später einen ausführlicheren Artikel verfassen. In aller Kürze sei darauf hingewiesen, dass es dort lange Zeit üblich war, zu Beginn des Universitätsstudiums allgemeinbildende Fächer freiwillig zu belegen, worunter auch Latein an qualifizierten Universitäten eine feste Größe war. Im altsprachlichen Unterricht kamen also werdende Journalisten, Ärzte, Kolumnisten, Beamte, Philologen, Arbeitslose etc. zusammen, die teils über ihre Studienzeit hinaus ihre Kontakte untereinander noch behalten. Auch Mails und Briefe werden untereinander ausgetauscht – mitunter auch in der Sprache der Humanisten: in lingua Latina!
2        Deutscher Altphilologenverband
3        Vgl. Helmut Schmidts pers. Einsatz (sowohl als Kanzler wie auch hernach als elder statesman) für die weltweite Bekanntwerdung von Emil Nolde, Ernst Barlach, Max Ernst, Ernst Ludwig Kirchner, Käthe Kollwitz u.v.a. – namentlich Kunstrichtungen, die in der NS-Zeit unter Acht und Bann standen. In der internationalen Wahrnehmung diente Schmidts Kunst-Engagement (v.a. für die Malerei des dt. Expressionismus) auch als glaubwürdiges Sinnbild eines reflektiert-vielschichtigen Umganges mit der NS-Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland.
4        … wiewohl beide dem 1983 gegründeten InterAction Council, Zusammenkunft früherer Staats- und Regierungschefs (Hauptsitz: Tokyo, Japan), beitraten und gemeinsam mit ihren Kollegen diverse denkwürdige Verlautbarungen der Weltöffentlichkeit zur Diskussion vorlegten wie z. B. die „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“, 1997, … 
5        Teilnehmerstaaten des G6 waren die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die USA, Japan; 1976 wurde Kanada mit in die Runde aufgenommen (seitdem G7).
6        Vgl. die vorausgegangene Entwicklung in den USA: Bereits 1976 kam es dort zu einer Wiedereinführung der Exekutionsstrafe, nachdem 1972 das Oberste Gericht die Todesstrafengesetzgebung als verfassungswidrig eingestuft u. aufgehoben hatte.
7        Formell ist die Todesstrafe auf der europäischen Ebene erst seit dem Inkrafttreten des 13. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention am 1. Juli 2003 vollständig, d.h. ohne einen Vorbehalt für exzeptionelle Tatbestände, abgeschafft. Die Abschaffung im Grundsatz, d.h. mit Vorbehalt für Taten, die beispielsweise bei unmittelbarer Kriegsgefahr oder in Kriegszeiten begangen werden, erfolgte freilich etliche Jahre früher (6. Zusatzprotokoll).

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